Marc Ziegemeiers erster Eindruck von China: Hitze. Sein zweiter Eindruck war: viel zu viele Menschen. Dritter Eindruck: Sein Chinesisch Crashkurs hatte nicht viel gebracht. Weder konnte er die Schriftzeichen im Flughafen entziffern, noch verstand er das Gebrabbel um ihn herum. Rasch folgte er seiner deutschen Reisegruppe, bevor diese im Getümmel verschwand.
Er holte seinen Koffer von der Kofferbank und ging gemeinsam mit den anderen hinaus. Die feuchtschwüle Hitze bekam ihm nicht, und von Hangzhou war am Flughafen sowieso nicht viel zu sehen. Da ihr Bus erst spät kam, holte er sich mit einigen anderen Touristen in einem Geschäft Mineralwasser. Evian, keine chinesische Marke, die wollte er noch nicht so trauen. Er bezahlte mit diesen schäbigen 1Yuan Scheinen---Münzen schienen sie nicht zu kennen. Er ging auf die Toilette, danach wählte er sich in einem WLAN-Knotenpunkt ein, um seinen Eltern zu schreiben, dass er gut angekommen sei.
„Wir steigen jetzt ein!", rief ihre Reiseführerin, eine junge Chinesin, die recht gut Englisch sprach. Nachdem sie ihre Koffer aufgeladen hatten, suchte sich Marc einen möglichst vorderen Platz aus. Der Bus war ebenfalls schäbig und heiß wie in einer Sauna. Im Sommer nach Süden Chinas zu reisen schien keine gute Idee gewesen zu sein, genauso wenig wie den Sommer in Spanien zu verbringen. Und der Busfahrer rauchte!
Marc versuchte, sich zu beruhigen. Er hatte eben die billigste Reise gebucht, wem wollte er da etwas vormachen?
Gebannt schaute er aus dem Fenster. Er war sich sicher, auf alle drei Schritte eine Fabrik und auf alle fünf Schritte verschmutztes Wasser zu treffen. Doch unerwartet stieß er auf Grün, viel Grün sogar. „Hangzhou ist viel grüner, als ich's mir gedacht habe." Die Reiseführerin schien nicht von dieser Aussage überrascht zu sein. Offenbar war sie konservativen und von Vorurteilen geprägten Ausländern gewohnt. „Hier in Hangzhou verbrennt man nicht so viel Kohle wie in Beijing, man nutzt eher die Atomkraft. Außerdem gibt es nicht so viele Fabriken hier.", sie lächelte, „Wir sagen, dass Hangzhou wie der Himmel auf Erden ist, ein sehr altes Sprichwort. Du wirst es noch sehen."
Den Himmel konnte man auf jeden Fall sehen, immerhin kein Smog. Marc lehnte seine Stirn gegen die Fensterscheibe. Zwei Tage bleiben sie in Hangzhou, dann geht es nach Shanghai weiter. Er muss Molli finden. Er muss.
Die Erinnerungen der letzten Tage tauchten wieder auf. Er liebt Molli, weil sie so anders ist. Sie zieht sich wie ein Mädchen an und nicht wie eine Tussi. Sie spielt Geige wie keine andere. Sie ist eine super Schülerin. Und sie kann kochen! Molli ist das einzige Mädchen, bei dem er sein Herz laut klopfen hört. Marc wusste, wie wichtig ihre Kultur für sie war. Er interessierte sich nicht sonderlich für China---Japan ist eh viel cooler---aber er bemühte sich.
Um eine Liebeserklärung auf Chinesisch machen zu können, hatte er ein Crashkurs belegt. Dann kam das Theater mit seinen Eltern. Obwohl sie geschieden waren und Marc bei seinem Vater lebte, schienen sie emotional noch nicht ganz getrennt voneinander zu sein. Marcs Vater brachte seine Freundin nach Hause, die in Marcs Augen eine Schlampe war, um seine Mom eifersüchtig zu machen. Die wiederum war mit einem zusammen, den weder Marc noch seinem Vater gefiel. So stritten sie sich den ganzen Tag und ließen Marc außer Acht. Um den Stress zu vergessen, ging er auf Partys. Auf die Schule und die ewig nervenden Lehrer hatte er schon länger kein Bock mehr. Er wollte Molli das sagen, alles erklären, aber...er weiß nicht. Ihm fehlte der Mut dazu, er schämte sich, dass Molli nun mit einem Säufer zusammen ist. Insgeheim hoffte er, dass Molli von sich selbst darauf kommen würde. Was natürlich nicht geschah. Also trank er, um alles zu vergessen.
Aber als Molli mit ihm Schluss gemacht hatte, hat er mit der Sauferei aufgehört. Ihm wurde klar, dass er dadurch seine Freundin verloren hatte. Marc seufzte und schloss seine Augen.
Gut, dass er schon achtzehn war. Er nahm sein ganzes Taschengeld---eine ganze Menge von den Geburtstagen, seiner Konfirmation und Minijobs---buchte die Reise und haute einfach ab. Er sagte erst Bescheid, als er bereits im Flughafen von Düsseldorf war. Das versetzte seine Eltern regelrecht in Schock, aber es war zu spät. Alles, was sie tun konnten, war die Familie Weiß in Alarm zu setzen und dann sich gegenseitig die Schuld geben. Typisch.
Marc schlief im Bus ein. Er würde im Reich derMitte schon allein zurecht kommen.
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Die Long-Drachen
FantasiAls Molli in den Sommerferien nach Shanghai flog, hatte sie keine Ahnung, dass sie schon bald hinter einem Geheimnis kommen würde: chinesische Drachen, sog. Long-Drachen, existieren wirklich. Doch sie wusste nicht recht, was sie von dem stolzen, mäc...