7. Kapitel: Das Mädchen aus dem Westsee

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Da er Mitglied der Reisegruppe war, blieb es Marc keine andere Wahl, als bei dem üblichen Touristenprogramm teilzunehmen. Nur hörte er halbherzig den Erläuterungen der Reiseleitung zu, weil seine Gedanken immer um Molli kreisten. Er hatte die Reise gebucht, um nach Shanghai zu kommen, nicht um seine Zeit mit Rentnern und mit frisch verheirateten Pärchen zu verbringen, die ja unbedingt mal nach Asien reisen wollen. Bei dem Gedanken hätte er fast Molli schnauben gehört, weil viele Menschen China immer noch nicht von Japan, Korea oder Thailand unterscheiden können.

Wie kriege ich Molli dazu, mir zu verzeihen?, grübelte er, während er vor einem buddhistischen Tempel stand und versuchte, nicht von den Menschenmassen von seiner Gruppe weggedrückt zu werden. Es gab Menschen, die tatsächlich zum Tempel pilgerten, um dort zu...heißt das beten? Aber die meisten jungen Touristen hielten vor dem Eingang an, um ein Selfie zu machen, gingen rein, um weitere Selfies zu schießen.

Vielleicht sollte ich auch ein Foto machen, überlegte sich Marc und holte sein Handy heraus. Erst da kam er dazu, die Umgebung genauer zu betrachten.

Der Eingang war von einem Torbogen aus chinesischem Stil überschattet, das heißt, links und rechts standen zwei gelb angestrichene Häuschen mit jeweils reichlich verzierten Holzfenstern und über den Häuschen spannte sich ein Satteldach. Darunter hing ein großes, goldfarbenes Schild, auf dem der Name des Tempels prangte. Marc konnte kein einziges von den drei Zeichen lesen. Erst als er auf die Infobroschüre seines Mitreisenden schielte, fand er heraus, dass es der berühmte „Lingyin Tempel" war, einer der berühmtesten seiner Art in China. Marc schoss ein Foto und beeilte sich, seiner Reisegruppe zu folgen.

Als Marc auf den Innenhof trat, wurde er doch von einer Ehrfurcht erfüllt, welche wohl den meisten Reisenden an jedem religiösen Ort überfällt. Die schönen, roten Holztüren am Haupttempel waren allein zehn Meter hoch, dabei hatte der Tempel noch weitere zwei Stockwerke, welche niedriger ausfielen als das Erdgeschoss. Zum Tempel selbst führte eine breite, weiße Marmortreppe, die darum kämpfte, nicht für grau gehalten zu werden. Ein riesiger, bronzener Ofen auf drei Füßen stand noch davor, den Marc vorsichtig umkreiste.  Von den drei Eingängen nahm die Reiseführerin die rechte und führte die Gruppe vorsichtig hinein, um ja kein Aufsehen zu erregen. Marc schaute auf die riesige, goldene Buddhafigur hinauf, die lächelnd auf die knienden Gläubigen hinabstarrte. Einige Mönche in orangefarbenen Gewändern standen links und rechts von den Skulpturen. Er sog den Duft der Weihrauchstäbchen ein. Auf einmal fühlte sich Marc besser. Vielleicht war es der Weihrauch, vielleicht, weil er doch etwas abgelenkt war, er fühlte sich etwas optimistischer.

„Worum die Menschen wohl beim Buddha beten?", fragte eine Frau mittleren Alters. Die Reiseführerin erklärte, dass der Lingyin-Tempel als sehr wirksam gilt und die Menschen praktisch um alles beten, um Gesundheit, um Ruhm, um Liebe, um Erfolg in der Schule.

Da Marc nicht an Gott glaubte und sich selbst nicht für einen Christen hielt, sandte er ein Gebet zum Buddha hinauf: hilf mir, Molli zu finden. Zeige mir den Weg zu ihr. Und gib mir noch ein bisschen Mut.

Später spazierten sie durch den Garten auf dem Hinterhof. Auf einem weißen, marmornen Steg durchquerten sie einen Teich, wo üppige Seerosen blühten. Das daran angeschlossene Wäldchen spendete Schatten, worunter sich die meisten Besucherinnen flüchteten. Was Marc vor allem beeindruckte, war ein Baumriese inmitten des Waldes. Er kannte die Art nicht, aber der Baum ragte dermaßen majestätisch in die Höhe, dass er unwillkürlich an einen Segen des Buddhas glaubte. Oder er wurde einfach besser gepflegt.

Seine Gruppe beschrieb einen Bogen und kamen vor einem Gebäude zum Stehen, wo sie, laut der Reiseführerin, Erfrischung holen, auf die Toilette gehen oder WLAN haben konnten. Marc traute seinen Augen nicht. Er sah ein Starbucks. Ein Starbucks in einem Gebäude, welche zur Tempelanlage gehörte. Nach all der Tradition, Religion und Natur stieß Marc unsanft auf die Realität des Kapitalismus. Auch Tempel müssen finanziert werden. Auch Tempel müssen viele Touristen herbeilocken. Und vielleicht tranken Mönche ja gerne Kaffee.

Die Long-DrachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt