Als Marc seine Augen öffnete, schaukelte er immer noch auf dem Boot im Wasser des Westsees. Die Bootstour war zu Ende, die meisten Touristen sind bereits ausgestiegen. Die Sonne schenkte der schönsten Frau ihre letzte Strahlen.
Das Mädchen.
Marc sprang auf und suchte die Stelle mit den Seerosen. Aber es wuchsen so viele über den gesamten See verteilt, dass er sie unmöglich wiederfinden konnte. Frustriert schnappte er sich sein Rucksack und stieg aus. Auf dem Weg zum Hotel und auch auf seinem Hotelbett stellte er sich immer wieder die Frage, wer das Mädchen wohl war. Nein. Die wichtigere Frage war: Was war das Mädchen?
Sie schwebte ohne Mühe im Wasser. Die seltsamen Bewegungen, die er machen musste. Dieser Glitzerstaub, welcher ihn in ein Nickerchen versetzt hatte. Das Wort Zauberformel. Wie nannte sie sich selbst nochmal? Long-Mädchen.
War nun etwas Übernatürliches am Werk oder nicht? Vielleicht war alles erklärbar. Sie war eine Artistin, die die Chinesen als eine geheime Attraktion zur Schau stellten. Sie saß auf einem Stein und hat irgendein Schlafpulver ihm zugeführt. Aber Marcs Gefühl sagte ihm, dass dies nicht der Fall war.
Das Mädchen war kein Mensch.
Marc lachte auf. Dieser Satz klang so unheimlich, dass es wieder komisch wirkte. Übernatürliche Wesen in der realen, wissenschaftlichen Welt? Als ob er nicht schon genug Probleme hatte, suchte ihn eine Meerjungfrau auf. Ach sorry, sie war kein Fisch. Sie war ein Long-Mädchen. Normalerweise hätte er sich die ganze Nacht darüber den Kopf zerbrochen, aber die Schlafpulver hatten wohl Nachwirkungen. Er schlief besonders gut in der Nacht.
Am nächsten Vormittag ging es für die Reisegruppe nach der Hefang Straße, an welcher man den Charme Hangzhous besonders genießen konnte, denn es handelte sich um eine Einkaufspassage mit regionstypischen Produkten. Die altmodischen, herausragenden Dächer, die rotbraunen, verschnörkelten Holzverzierungen der Fensterrahmen und Balkone wurden teilweise mit Leuchtreklamen ergänzt. An Schnüren hingen rote Lampions. Manch ein Laden machte auf echt Antik und verzichtete auf alles, was der gemeine Tourist als Werbung auffassen könnte. Marc entdeckte ein altes Medizinhaus, wo die Kräuter in hunderten Schubladen aufbewahrt wurden, Kramläden, Seidengeschäfte, wo die Kleidung zu horrenden Summen verkauft wurden, sowie ältere Herren, die Schriftrollen und Fächer auf Wunsch mit Tusche und Pinsel bemalten und beschrieben. Er kaufte sich ein bemalter Fächer, worauf der Westsee abgebildet war. Er fächerte sich damit Luft zu, um die Schwüle zu vertreiben, und schaute sich nach seinen Mitreisenden um. Niemand war da. Wahrscheinlich sind sie alle in verschiede Geschäfte gegangen, dachte Marc. Ach ja, die Teetassen! Die sollte er seiner Mutter mitbringen. Er erinnerte sich an ein Teegeschäft, an dem er vorbeispaziert war. Also ging er den Weg zurück.
Als er sich zwischen den Menschenmassen schob, welche sich vor dem Stand mit den Fächern gebildet hatte, erblickte er ein vertrautes Gesicht. Einem plötzlichen Impuls folgend stürzte er auf die Person zu und ergriff sich ihr Handgelenk. Ein paar klare, schwarze Augen funkelten ihn an. Die roten Lippen verzogen sich zu einem schelmischen Grinsen.
„Du bist es!", sagte Marc atemlos. Das Mädchen legte einen Finger an den Mund. Mit einer Kraft, die er nie im Leben einer Sechzehnjährigen zugetraut hätte, zog sie ihn aus dem Verkehr in ein Seitengässchen.
„Ich dachte schon, du würdest mich nie finden", sagte sie grinsend. Marc traute seinen Augen immer noch kaum. Das Mädchen vom Westsee stand direkt vor ihm, unverkennbar. Nur trug sie ein einfaches T-Shirt, eine Jeans, die bis zum Knie ging, sowie Sportschuhe. Die Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten, welche bis ihrer Kniekehle reichte. Tausend Fragen wirbelten in seinem Kopf.
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Die Long-Drachen
FantasyAls Molli in den Sommerferien nach Shanghai flog, hatte sie keine Ahnung, dass sie schon bald hinter einem Geheimnis kommen würde: chinesische Drachen, sog. Long-Drachen, existieren wirklich. Doch sie wusste nicht recht, was sie von dem stolzen, mäc...