1.Kapitel: Jasmin Weiß, Bai Moli 白茉莉

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 Jasmin Weiß, oder Bai Moli, oder von ihren engeren Freunden liebevoll „Molli" genannt, spazierte nachdenklich an einem abgelegten Stück Strand entlang, welcher noch nicht von allzu vielen Touristen heimgesucht wurde. Dafür, dass er nicht übertrieben weit von belebten Vierteln Shanghais lag, war er überraschend ruhig und sauber. 

Molli mochte es nicht, Bai Moli genannt zu werden, „Weißer Jasmin" im Chinesischen. „Das klingt so was von ländlich und alt", klagte sie einmal zu ihrer Mutter. „Dieser Name ist doch hübsch", antwortete diese, "er passt zu deinem deutschen Namen. Und du weißt genau, dass je einfacher die Namen gestrickt sind, desto besser die Menschen zu leben haben." Die Aberglaube ihrer Mutter regte sie manchmal wirklich auf. Was für ein Glück, dass sie nicht Kleeblatt oder, wie es ganz früher bei armen Jungen der Fall gewesen war, „Die-Reste-vom-Hundefressen" genannt worden war! 

Weil ihr deutscher Vater Weiß hieß und ihre chinesische Mutter zufällig auch Bai, Weiß, entschied man bei ihr einfach für einen Namen, den man sowohl in China als auch in Deutschland rufen kann. In Deutschland war sie Jasmin Weiß, in China Bai Moli. „Molli" hingegen konnten beide rufen, und das passte auch zu ihr - nicht, dass sie mollig war.

Molli hob ein paar Muscheln vom Sand auf und warf sie nacheinander ins Meer zurück. Sie ließ den Seewind durch ihre Haare wehen. Was ein herrliches Gefühl! Nur am Meer konnte sie ihren Gedanken freien Lauf lassen und ihre Sorgen vergessen. Erst vor wenigen Wochen hatte sie sich von ihrem Freund Marc getrennt und ist nun in den Sommerferien nach China geflogen---oder geflohen. Marc verstand die Gründe nicht, warum sie ihn verlassen hatte.

Sie empfand einfach nichts mehr für ihn. Marc wurde bei Partys immer beliebter. Anstatt für sie da zu sein, soff er und schwänzte die Schule. Es war fraglich, ob er es noch bis zum Abitur schaffen konnte. Früher war er nicht so gewesen, und als Molli ihn fragte, wollte er nichts sagen. Sie wollte einfühlsam sein, schaffte es aber nicht. Dafür war Marc entweder gereizt oder wortkarg.

Als sie ihm sagte, dass sie die Beziehung beenden wollte, war er zunächst erschrocken, dann rastete er aus. In den folgenden Tagen flehte er um eine letzte Chance, wie alle Jungs es machen würden. Doch Molli ging nicht ein. Sie hatte ihm bereits unzählige letzte Chance gegeben, heimlich. Spätestens als andere Jungs sie mit einem schlechten Chinesenwitz provoziert hatten und Marc mitgelacht hatte, hatte sie es beschlossen.

Molli ließ ihren Tränen freien Lauf. Was sollte sie noch mit einem Freund, der sie nicht beschützt oder verteidigt? Was sollte sie mit einem Freund, der ihre chinesische Wurzeln, ihre Kultur nicht verstand oder sogar verachtete? Und welcher Freund lässt ihre Freundin ständig alleine und unternimmt nichts mit ihr? Also war ihre Trennung richtig gewesen. Wenn Marc ihr nicht ständig Whatsapp-Nachrichten schicken würde, würde sie ihren Urlaub sogar genießen.

„ICH SCHEIßE AUF MARC ZIEGEMEIER!!!", brüllte sie mit aller Kraft.

Das tat sogar gut, wenn das darauffolgende Geräusch, das sich wie eine Explosion im Wasser anhörte, sie nicht erschrocken hätte.

Die Long-DrachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt