12. Kapitel: Das Wiedersehen

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Ein warmer, sauberer Duft stieg Molli in die Nase, während sie Bailin umarmte. Der Oberkörper war, wie sie am Tag vorher schon festgestellt hatte, sehr fest, aber nicht unmenschlich. Sie wollte eigentlich nur getröstet werden, und vermutete, dass die Umarmung eines Freundes vielleicht tröstlicher war als die der Eltern.

Sie war in der Tat tröstlich. Aber später dachte sich Molli, dass sie lieber hätte ihre beste Freundin per Flug nach Shanghai bestellen sollen, es hätte weniger Komplikationen verursacht.


Urplötzlich stand Marc vor ihr. Einfach so.


Sie spürte fast ihre Pupillen aufreißen. Gierig nahmen sie jedes Detail auf: blonde Haare, die immer etwas unordentlich waren, dunkelblaue Augen, die unter den dichten Brauen glänzten, das T-Shirt, das sein trainierter Körper betonte. In ihrem Gehirn herrschte für einige Sekunden Funkstille.

Bailin schien etwas zu spüren. Vorsichtig löste er sich von ihr und drehte sich um. Doch seine Worte überraschten sie dermaßen, dass sie in die Realität zurückgezogen wurde.

„Bilian?!" Erst da nahm sie das chinesische Mädchen zu Kenntnis, das neben Marc stand. Etwas verlegen sah sie aus, da ihr nun das Interesse von drei Personen galt. Ihre Haare reichten ihr bis zu den Knien. Marc und Bailin schienen sie zu kennen – aber wer war sie?

„Was machst du hier mit diesem Menschen?", fragte Bailin streng.

„Mooment", sagte Marc auf einmal und trat direkt vor Bailin. „Was heißt hier ‚mit diesem Menschen?' Diese Frage soll ich dir wohl stellen: was hast du hier verloren?" Bailins Augen verengten sich.

„Muss ich einem Menschen melden, wenn ich etwas tun möchte?" Marcs Nasenhöhlen bliesen sich auf.

„Du musst dich bei mir melden, wenn du etwas mit ihr machen möchtest, Freundchen", mit dem Blick auf Molli deutend. Bailin drehte sich zu Molli um. Sie hätte sich liebend gern irgendwo begraben.

„Warum kennst du Ja-s-min und Bilian?", fragte Bailin misstrauisch. „Wer bist du eigentlich?"

„Wer bist du eigentlich?", knurrte Marc zurück.

„Und wer bist du eigentlich?", fragte Bilian Molli. Molli fand es wenig kreativ, dieselbe Frage an Bilian zu stellen, hob deshalb nur eine Augenbraue. Sie hatte das Gefühl, dass sie nun alles aufklären musste.


„Hallo", sagte sie müde zu Marc. An Bailin gewandt, stellte sie vor: „Das ist Marc." Seine Augen weiteten sich. Und zu Marc sprach sie: „Das ist Bailin. Ein Freund von mir." Zu Bilian sagte sie: „Ich heiße Jasmin. Und du bist..." Sie wagte nicht, das Wort auszusprechen, aber Bilian übernahm die Worte:

„Ich bin die kleine Schwester von Bailin."

Molli stutze nur kurz, da sie erraten hatte, dass sie auch ein Long-Drache war. Aber Marcs Reaktion war heftiger

„Du bist auch ein Long-Drache?!", rief er aus.

„Und du bist ... Maak", Bailins Stimme klang alles andere als freundlich. Wütend schaute Marc Molli an.

„Du scheinst ihm ja eine Menge über mich erzählt zu haben, was?"

„Allerdings", antwortete Bailin statt ihrer, „Und warum du ausgerechnet meine Schwester triffst, ist mir ein Rätsel."

„Er hat mir einen Gefallen getan. Also habe ich ihn hierher gebracht, um mich zu bedanken", erklärte Bilian schnell.

„Mir ist auch nicht klar, warum ausgerechnet du meine Freundin umarmst!", Marcs Augen blitzten.

„Wir haben Schluss gemacht, Marc!", endlich fand Molli die Kraft, das zu sagen. „Ich bin nicht mehr deine Freundin."

Sie ist deine Freundin, die du suchst?", rief Bilian. „Was für ein Zufall."

Für Molli geschahen an diesem Tag einige Zufälle zu viel. Eine kurze Schweigepause traf ein, in der die Stimmung so drückend war wie die Stille vor einem Sturm. Vor allem zwischen Marc und Bailin fand eine Art Starr-Wettbewerb statt.

„Du hast ja meine Haarspange!", unterbrach Bilian endlich die Ruhe. Als Molli jedoch Anstalten machte, sie zu lösen, winkte Bilian ab: „Behalte sie einfach. Ich habe genug davon in auf meinem Ankleidetisch."

„Molli", sagte Marc auf Deutsch, seine Stimme klang brüchig. „kanntest du diesen Typen hier schon früher? Oder hat er innerhalb von wenigen Tagen..." All ihre Verbitterung, all ihre Wut kehrte mit einer Wucht zurück.

„Erstens, Herr Ziegemeier, heiße ich Jasmin. Das Privileg, mich Molli zu rufen, hast du verloren; zweitens, wie hätte ich Bailin bitteschön vorher kennenlernen sollen? Er ist ein Drache, verdammt noch mal; und drittens, was kümmert dich das alles überhaupt?"

Marc versuchte, näher an sie zu treten, als ein Arm sich zwischen den beiden schob.

„Es ist schon okay, Bailin", sagte Molli zitternd, „es ist mein Problem. Ich muss es selbst lösen." Dieser senkte zwar den Arm, blickte Marc aber weiterhin finster an.

„Zwischen uns, gelbhaariger Mensch, ist das Problem noch nicht gelöst."

„Denke ich auch so, weißer Drache", erwiderte Marc knirschend.

„Und du", sagte Bailin nun zu Bilian, „bekommst Hausarrest. Mindestens."

„Also bitte", schaltete sich Marc ein, „Bilian hat versucht, mir zu helfen. Verlege doch nicht deinen Hass auf mich auf deine Schwester!"

„Darum geht es nicht", knurrte Bailin, „es geht darum, dass sie einem Fremden die Existenz der Long-Drachen verraten hat. Dir sei gewarnt, Großnase: wenn du das auch nur irgendwem weiter verrätst..."

„Ich bin nicht dumm, Feuerspucker. Wo wir dabei sind: hast du Jasmin nicht das Geheimnis auch verraten?" Bilian zog die Augenbrauen hoch und nickte provozierend. Bailins Gesicht färbte sich leicht rosa.

„Das war eine Notmaßnahme. Ja-s-min ist dem Ausmaß der Folgen bewusst. Ob du in der Lage bist, dies nachzuvollziehen, bezweifle ich."

„Du weißes, mythisches..."

„Ist jetzt gut!", rief Molli. Sie musste dem Ganzen ein Ende setzen. „Marc, du fährst mit mir nach Hause. Bailin, ihr geht jetzt auch." Im Kopf fügte sie hinzu: „Danke, dass du dich für mich einsetzen willst. Ich erkläre dir alles hinterher."

Marc einem letzten, bösen Blick zuwerfend, fasste Bailin Bilian bei der Hand und sprang mit ihr in den Fluss. Bilian konnte Marc gerade noch „Viel Glück!" zurufen, da waren sie auch schon weg. Die Fußgänger wunderten sich, wie immer, nicht.

Marc ignorierend, ging Molli an die Straße und winkte ein Taxi herbei. Es würde ein harter Kampf werden, sowohl mit Marc als auch mit sich selbst; sie wollte nicht, dass ihre Fassade schon frühzeitig bröckelte. 

Die Long-DrachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt