6. Kapitel: Die Residenz der Long-Drachen

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Voller Vorfreude machte sich Molli auf den Weg zum Strand des vorherigen Tages. Ihren Eltern sagte sie, dass sie shoppen gehen wollte. Gut, dass sie sich die U-Bahnstationen gemerkt hatte. Während sie im vollen Waggon stand, dachte sie an ihre Informationen aus dem Internet, die sie kaum weitergeholfen hatten. Alles nur Mythen, die, so dachte sie sich, mit der Realität nichts zu tun haben werden. Sie hatte mehrere Stunden gebraucht, um die richtigen Kleidungsstücke anzulegen sowie ihr Rucksack zu packen. Schließlich wollte sie dem Drachen ja die Menschen präsentieren. Noch während sie grübelnd vor ihrem Kleiderschrank standen hatte, fragte sie sich, warum zum Teufel sie sich darüber Gedanken machte. Für ihn spielt es ohnehin keine Rolle, was sie trug. Nein. Sie musste die Menschen repräsentieren. Es darf also nicht schlampig werden. Also hatte sie sich für ihr Lieblings-T-Shirt in grün und eine hübsche, aber bequeme kurze Hose entschieden. Als die U-Bahn an den Stationen vorbei ratterte, rief sie sich Bailins Gestalt in Erinnerung: irgendwie...sah er gut aus. Dabei mochte sie keine chinesischen Jungs. Aber welcher Chinese sah auch schon aus wie ein Long-Drache?

Sie brauchte einige Zeit, bis sie den Strand von gestern gefunden hatte. Er war nur nicht so leer. Anscheinend hatten Menschen innerhalb von 24 Stunden Gefallen an diesem abgeschiedenen Abschnitt gefunden. Dort spielten einige Volleyball, ein Maler entdeckte die saubere Schönheit der Bucht und drückte glücklich seine Zigaretten im Sand aus, wieder andere tobten in der Brandung. Im Verhältnis zu anderen Stränden dürfte man es hier nicht voll nennen; dennoch brachte es Molli zum Grübeln, wie zur Hölle Bailin unbemerkt hierher kommen sollte.

„Ja-s-min!" Erschrocken drehte Molli sich um und blickte in die schwarze Augen von Bailin. Dieser zog die Brauen hoch.

„Warum erschreckst du dich immer, wenn ich auftauche? Ja-s-min ist doch dein Name, oder?" Ja, aber Chinesen rufen mich nie Jasmin, dachte sie. Warum habe ich ihm nicht einfach meinen chinesischen Namen genannt? Sie räusperte und brachte ein Hallo heraus. Sie bemerkte, dass Bailin ganz normal aussah. Selbst sein Haar war kurzgeschnitten. Er trug T-Shirt, Shorts, und - ein paar quietschgrüne Badelatschen.

„Warum lachst du?", wollte er wissen. Dann folgte er ihrem Blick auf seine Füße. „Stimmt da etwas nicht?" Molli unterdrückte ihr Grinsen. In Anbetracht der Tatsache, dass er nichts über Mode wissen konnte, sagte sie nur:

„Vielleicht gehst du nächstes Mal lieber barfuß." Bailin schnaubte.

„Von wegen grelle Farben, diese blöden Krabben haben mich wieder ausgetrickst. Warum fresse ich sie nicht einfach?" Er warf die Latschen weg. „So. Heute bietet sich eine gute Angelegenheit, dich rein zu schmuggeln. Mein Vater ist aus dem Hause. Hier", er reichte Molli eine Haarspange. „Von meiner Schwester. Er weist Wasser ab, sodass du geschützt bist." Dankbar nahm Molli das Schmuckstück entgegen. Es schien aus Silber gearbeitet zu sein und wies eine Wellenform auf. An der Spitze leuchtete eine Perle auf, die in der Mitte einer korallenen Blume saß. Sie steckte es sich ins Haar. Bailin nickte anerkannt.

„Nun komm." Ohne auf sie zu warten, schritt Bailin zügig auf die Brandung zu. Überrascht lief Molli ihm hinterher. Erst als sie schenkeltief im Wasser standen, fragte sie: „Und jetzt?" Ihr war es nicht wohl. Sie kannte Bailin kaum und trotzdem wollte sie mit ihm in eine Unterwasserwelt tauchen. Sie blendete diesen Gedanken aus. Er blickte sie ernst an.

„Wir gehen so weit ins Wasser, bis wir untertauchen können. Dann werde ich mich verwandeln und dich in die Tiefe ziehen."

„Mooment!", rief Molli. Er hatte ja keine Ahnung, wie gruselig seine Worte klangen. „Ganz langsam. Was genau wird geschehen?"

„Kannst du nicht erst mit mir unters Wasser kommen?"

„Nein!", quietschte sie. Plötzlich brach über sie die ganze Angst ein, die sie erfolgreich ausblenden konnte. Was, wenn sie ertrank? Was, wenn sie von Haien – oder noch schlimmer- von anderen Drachen gefressen wurde? Dieser Typ vor ihr, warum sollte er ihr seine Welt zeigen, ein so großes Geheimnis, über welches Molli nun gar nicht nachzudenken wagt? Vielleicht war es eine Falle, um sie ins Meer zu locken und dann sie aufzufressen. Sie erinnerte sich ganz genau an die Fratze des Long-Drachen. Diese heiligen Tiere sind viel zu gefährlich.

Die Long-DrachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt