Bilian genoss es, ihr hellgrünes, schlankes Drachenleib durchs Wasser zu ziehen und sich durch die Stömungen zu bahnen. Was waren die lahmen Seen und Flüsse doch zu dem gewaltigen Ozean!
Bailin neben ihr verzog das Gesicht, als hätte er tote Seesterne gegessen. Sie verkniff sich ein Lächeln.
Sie war die kleine Schwester Bailins und stand ihm besonders nahe, weil ihre eigene Mutter früh starb und Bailins Mutter sie großgezogen hatte. Ihren Vater, der Long-Wang, der Drachenkönig des östlichen Meeres, hatte selbstverständlich viele Frauen. Offiziell waren es zwölf, aber inoffiziell...na ja. Den anderen Lebewesen außer den Drachen nicht mitgezählt. Trotzdem gab es nie wieder so viele Long-Drachen wie vor der... wie bezeichnete Lehrer Gui (die Schildkröte) es noch mal? Ach ja, Industrialisierung. Die Menschen wandten sich von den Drachen ab und verschmutzten ihren Lebensraum. In den Höhepunkten der Long-Geschichte konnte jedem Fluss, jedem wichtigen Brunnen einen kleinen Drachen zugewiesen werden. Aber nun will kaum jemand in die Yangtze oder Huang He.
Bilian löste sich von den Gedanken und fragte:
"Seit wann umarmst du Mädchen, Bailin?", Die Offensive war besser als die Defensive. Bailin blickte sie finster an.
"Seit wann gibst du dich mit Nicht-Chinesen ab, Bilian?" Verdammt, den Trick kennt er jetzt auch.
"Seit er mir im Westsee geholfen hat. Der Fisch-Beamte dort mochte mich nicht und hat mich mit einem Fesselzauber belegt. Du weißt, dass dann ein anderer zum Ent-fesseln benötigt wird. ", erklärte sie.
"Es wird einen Grund geben, warum der Fisch dich gefangen hat."
"Der mochte mich halt nicht."
"So wie ich dich kenne, hast du dich bestimmt unerlaubt in sein Gewässer eingeschlichen." Bilian errötete. "Der See war an dem Tag besonders schön."
"Von mir aus. Aber selbst wenn dieser Maak dir geholfen hat, ist es längst kein Grund dafür, ihn von uns zu erzählen!" Er schwamm vor ihr und zwang sie, ihn anzuschauen. "Und Human-Außendienst bedeutet auch nicht, mit jedem beliebigen Menschen in Kontakt zu treten!" Bilian verdrehte die Augen. Dies war ein Punkt, zwischen dem die Geschwister sich nie einigen. Bilian war nämlich der Meinung, dass das Problem der Drachen-Menschen-Beziehung nur durch gegenseitiges Verständnis gelöst werden konnte, weshalb der erste Schritt es war, sich den Menschen zu öffnen. Ihr Bruder wollte lieber das Erbe der Long-Drachen hüten, wie die meisten von ihnen.
"Aber du scheinst dieser Ja-s-min noch besser zu kennen als ich Maak", bemerkte Bilian. "Ich meine, Umarmungen..."
"Ich habe sie getröstet", antwortete er seelenruhig. Wäre er nicht ihr Bruder, hätte sie sich damit abspeisen lassen.
"Mach keine Witze. Weißt du, wieviele Kusinen auf dich stehen? Von den verschiedenen Wasservölkern ganz abgesehen. Und ich habe noch nie gesehen, wie..."
"Ist jetzt gut, Bilian", sagte er streng. Sie blies einige Luftblasen auf (Drachenform fürs Schulterzucken). Nun schwammen sie weiter. Nach einer Weile konnte Bilian es nicht anders, als zu fragen:
"Was hast du überhaupt gegen Maak? Ich hatte das Gefühl, du wolltest ihn beißen."
"Erstens kennt er nun unser Geheimnis. Und er ist noch nicht einmal Chinese; zweitens war er mit meiner Schwester unterwegs; drittens war er der Angebetete von Ja-s-min und hat sie sehr traurig gemacht."
"Für mich sah er aber auch ziemlich traurig aus."
"Das habe ich übersehen. Halt dich lieber fern von ihm."
"Er ist aber mein interessantestes Objekt!", protestierte sie. Die Sitten, Manieren und Verhaltensweisen der Menschen faszinierten sie sehr. In der Vergangenheit hatte sie bereits mehrere Menschen studiert. Manche im Geheimen, mit anderen hatte sie Freundschaften geschlossen. So eine Gelegenheit, einen Ausländer näher kennenzulernen, konnte sie doch nicht gehen lassen.
In der Ferne war nun die Residenz zu erkennen.
"Du bekommst drei Tage Hausarrest dafür, dass du alles dem Ausländer verraten hast", kündigte Bailin an.
"Dasselbe hast du doch auch gemacht!"
"Das war eine Notsituation, Ja-s-min hat meine Long-Drachengestalt gesehen. Ich musste sie ins Vertrauen ziehen."
"Bei mir war es ebenfalls eine Notsituation. Maak wurde bereits misstrauisch, mir blieb ebenfalls nichts übrig. Und wenn du mir Hausarrest aufgibt, geh ich zu Vater und erzähle, dass du einen Menschen anbetest."
"Dann geh ich zu Vater und sage, dass du auch einen Menschen anbetest, und dazu noch einen Gelbhaarigen, der eigentlich zum Territorium des westlichen Meeres gehört."
"Von mir aus, er ist ja nicht mein Angebeteter. Bei dem Mädchen wäre ich mir da nicht so sicher."
"Sie ist nicht meine Angebetete!"
"Schön, dann suche ich gleich Vater auf. Nach dem Abendessen müsste er Zeit haben..."
Bailin fauchte. Bilian grinste und wusste, dass sie gewonnen hatte. Wie immer eigentlich.
"Aber zu diesem Maak gehst du nicht ohne meine Begleitung."
"Ja, Gege (großer Bruder)", antwortete sie zuckersüß und dachte an die Kette, die sie heimlich in Maaks Hosentasche gesteckt hatte.
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Die Long-Drachen
FantasyAls Molli in den Sommerferien nach Shanghai flog, hatte sie keine Ahnung, dass sie schon bald hinter einem Geheimnis kommen würde: chinesische Drachen, sog. Long-Drachen, existieren wirklich. Doch sie wusste nicht recht, was sie von dem stolzen, mäc...