Mein Herz drohte zu zerspringen. Ich hatte den Stuhl hinter mir umgeschubst und der Knall war so laut gewesen, dass ich mir sicher war, jeder in dem Haus müsste es gehört haben. Schnell atmend griff in nach dem Pullover auf der Heizung, striff ihn mir über und griff nach meinen wenigen Habseligkeiten. Eilig wollte ich das Haus verlassen, da hörte ich klar und deutlich Schritte, die sich mir näherten. Hastig öffnete ich die Tür und blickte in zwei verschlafene Augen, die sich bei meinem Anblick weiteten. Kurz darauf entfuhr der Frau ein gellender Schrei. Sie stolperte ein paar Schritte zurück und schrie: „Manfred! Ein Dieb! Ein Diiieeeb!"
Panik machte sich in mir breit. Man hatte mich entdeckt. Doch ich verspürte noch etwas anderes als Panik. Mit einem Mal schämte ich mich so unbeschreiblich, dass ich mir wünschte, ich hätte das Haus niemals betreten. Ich wartete, bis der Mann angeeilt kam, dann wand ich mich zuerst der Frau zu. Fest blickte ich ihr in die Augen und wusste, dass sie nicht mehr wegblicken konnte.
„Du erinnerst dich nicht an mich. Ich war nie da.", raunte ich. Ich konnte wahrnehmen, was für einen Effekt meine Worte auf sie hatten. Ich spürte, wie ich die Erinnerung an mich auslöschte und ein warmes Nichts hinterließ. Die Frau nickte, wand sich ab und ging. Verdattert blickte sich der Mann um und wich ein paar Schritte zurück, doch ich blickte ihm bereits tief in die Augen. „Du erinnerst dich nicht an mich. Ich war nie da.", wiederholte ich meine Worte, woraufhin auch er umdrehte und ging. Ich öffnete die Haustüre, preschte die Treppe hinab in den Flur, riss die Tür auf, spannte den Regenschirm über meinen Kopf und rannte in den Regen. Geschickt wich ich einigen Pfützen aus und trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass meine abgewetzten Turnschuhe bald durchnässt waren. Der Wind riss an meinem Schirm und plötzlich klappte dieser mit einem Ruck um. Der Regen peitschte in mein Gesicht, auf meine Hose und meine Arme. Panische Angst durchfuhr mich. Wie eine Welle schwappte sie in meinen Körper, durchfuhr jede einzelne Zelle. Von den Zehen, bis hoch in meine Kehle, wo sie stecken blieb und einen dicken Kloß bildete. Ein Schreckensschrei entrang meiner Brust. Ich lies den Schirm fallen, zog mir die eh schon nasse Kapuze ins Gesicht und rannte, ohne auf die Pfützen zu achten, durch den Regen. Ich musste so schnell wie möglich einen sicheren Platz finden, ehe das Fieber einsetzte. In nicht allzu weiter Entfernung sah ich eine Brücke, die sich über einen kleinen Fluss bog. Zielstrebig rannte ich auf sie zu, wobei meine Beine bereits zu Zittern begannen.
Erschöpft ließ ich mich auf den kalten Boden unter der Brücke fallen und wischte mir mit einem trockenen T-Shirt übers Gesicht. Hektisch riss ich mir die nassen Klamotten bis auf Unterhemd und Unterhose vom Leib und zog mir meine einzigen noch trockenen Klamotten an. Ich spürte, wie mir kalt wurde. Ein steckender Schmerz durchfuhr meinen Körper und hielt in meinem Kopf an. Zitternd rollte ich auf die Seite und zog die Knie ans Kinn. Der Schmerz war unerträglich. Wie tausend glühend heiße Dolche bohrte er sich in mein Inneres und ließ meinen gesamten Körper erbeben. Ich hielt meine zitternde Hand an meine schweißnasse Stirn, als könnte ich die Schmerzen in meinem Kopf auf diese Weise zum Schweigen bringen, doch das passierte nicht. Stattdessen durchfuhr ein heftiger Krampf meinen Körper. Stöhnend presste ich die Lider aufeinander, bis ich nichts mehr spürte und in eine andere, dumpfe Welt eintauchte.
„Bringen sie meinen Sohn zurück!" Die kratzige Stimme meines Vaters dröhnte aus dem Telefon und verstärkte meine ohnehin schon unerträglichen Kopfschmerzen.
„Ihr Sohn kann gegen ärztlichen Rat durchaus das Krankenhaus verlassen, aber sie müssen sich bewusst sein, dass sie ihn damit einem gewissen Risiko aussetzten.", erklärte die Krankenschwester eindringlich. Sie hatte mir gerade mein Mittagessen gebracht und die Nudelsuppe auf meinem Nachttisch dampfte in meine Nase. Ich hatte keinen Appetit.
„Hören sie mir mal gut zu, sie Oberschlauberger ...", hörte ich meinen Vater im Telefon nuscheln. Er war so betrunken, dass er nicht mal normal reden konnte, aber meinte trotzdem darüber entscheiden zu können, ob es mir gut genug ging, das Krankenhaus verlassen zu können oder nicht. „Sie wollen ja nur mehr Geld sehen, wenn der Bengel noch ne Nacht länger bei euch rumgammelt! Ihm geht es längst wieder gut. Er hatte das schon öfters und ich weiß, wie man damit umgehn muss!"
Immer noch ruhig erklärte die Krankenschwester: „Es liegt letzten Endes natürlich in ihren Händen, aber es stehen noch ein paar Untersuchungen an, um seinem starken Fieber auf den Grund zu gehen. Gerade wenn das öfter auftritt, ist es wichtig, ein paar Dinge auszuschließen." Nervös lief im Raum auf und ab, während sie redete, aber ich hörte die laute Stimme meines Vaters trotzdem, als er nuschelte: „Sie ham mich gut verstanden! Ich komme ihn heute abholen. Sie wissen's ja nich, aber der Junge spielt sich öfters ziemlich auf. Das is nich so schlimm wie's aussieht."
Die Krankenschwester erkannte wohl, dass es sinnlos war, mit so einem Menschen zu diskutieren, also seufzte sie nur. Da tutete es schon am anderen Ende der Leitung. Mein Vater hatte aufgelegt.
Mitfühlend sah sie in Richtung meines Bettes, in dem ich mich mit fieberrotem Kopf unter der Decke verkrochen hatte. Langsam öffnete ich die Lider, die über meinen brennend heißen Augen lagen und blickte die Krankenschwester an. Sie versuchte, sachlich zu klingen, als sie sagte: „Dein Vater nimmt dich heute wieder mit nach Hause." Ihre Stimme klang gleichgültig, aber ihr Gesichtsausdruck schwankte zwischen Betroffenheit und Mitleid.
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Lennox Scorpio - unter den Sternen
Fanfiction"Die Augen meines Vaters sprachen Bände, die von Hass und Abneigung erzählten. Hätte man dazwischen nach auch nur dem kleinsten Anzeichen von Liebe suchen wollen, würde man jämmerlich scheitern." Was dachte Lennox, als er Alea das erste mal sah? Wie...