Kapitel 14

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Wütend trat ich gegen einen Baum. Schon wieder hatte ich nicht richtig mit dem Mann sprechen können! Und zu allem Überfluss wurde ich nun auch noch von der Polizei gesucht. Was war ein Obli... Oblibion? Warum meinte der Mann, mich zu kennen? War er vielleicht Familie? Nein, das konnte nicht sein. Die Familie meines Vaters lebt in Italien und meine Mutter hatte nur Eltern und die sind tot. Das hatte mir mein Vater erzählt. Bei dem Gedanken an meine italienische Verwandtschaft wurde es mir ganz warm ums Herz und für einen Moment versank ich ganz in dem Gedanken, irgendwo auf dieser Welt vielleicht doch Familie zu haben, die mich liebte. Vielleicht hatte ich ja eine tolle Tante? Oder einen liebevollen Opa? Sogar ein Uhrgroßopa dritten Graden wäre mir Recht gewesen. Irgendein Beweis, dass meine Familie auch gute Menschen ausmachen. Da blitzte eine Erinnerung in mir auf.

Das Handy klingelte. „Ich geh ran.", brummte mein Vater, erhob sich aus dem fleckigen Sessel und hob ab. „Pronto!", knurrte er laut.
Ich hörte die Stimme meiner Oma.
„No, non puoi parlargli." brummte mein Vater und sein Blick traf meinen.
„Warum sagte er, sie könne mich nicht sprechen?" Er kaute an seinem Fingernagel und nuschelte: „Per anni non te ne sei fregato e poi all'improvviso chiami e vuoi augurare a Lennox un felice compleanno!"
Sie wollten mir also wirklich zum Geburtstag gratulieren! Doch meinem Vater ging das wohl gewaltig gegen den Strich.
„Vai all'Inferno!", donnerte seine Stimme aus der Küche. (Scher dich zur Hölle) Ich zuckte zusammen, obwohl ich es gewohnt war, diese Worte von meinem Vater zu hören, aber mir war nicht bewusst, dass er sogar mit seiner eigenen Mutter so sprach.
„Perché non può parlare con me?",fragte ich bestürzt. „Lei fa anche parte della mia famiglia!" (Warum darf sie nicht mit mir reden? Sie ist auch meine Familie!) Der Gedanke, dass mein Vater mich daran hinderte, mit meiner Oma zu reden machte mich unendlich wütend und ich hätte heute nichts lieber als Geburtstagswünsche von meiner Familie gehört.
„Stai zitto!", brüllte mein Vater. Ich sollte die Klappe halten.
„Dammi il telefonino!", schrie ich verzweifelt und hielt ihm erwartungsvoll meine Hand vor die Nase. Er sollte mir das Handy geben. „Dammi!", knurrte ich. Ich musste meine Oma zurückrufen!
Er schlug meine Hand weg und trat einen Schritt auf mich zu. Sein Gesicht war nah an meinem und er besprenkelte mich mit Spucke, als er brüllte: „Ti ho detto di stare zitto!" Er hielt mir den Zeigefinger vor die Nase und ich schluckte den Wunsch hinunter und atmete die sich in mir aufkommende Wut in den Bauch.

Ich blinzelte und drängte die Erinnerung bei Seite. Ich war meinen Vater los und würde nicht mehr zulassen, dass er mich in Gedanken immer wieder heimsuchte. Ich kickte eine Dose vor mir her, während ich dem Fluss folgte. Mein Magen knurrte und verlangte nach einem verspäteten Frühstück. Ich hatte inzwischen alle Hemmungen für immer bei Seite geschoben. Mein Gewissen hatte kein Problem mehr damit, das Klauen zu verkraften. Bei der nächsten Gelegenheit würde ich mir etwas zu essen besorgen. Der Fluss führte mich zu einem Hafen, den ich zur Mittagszeit erreichte. Die Tage wurden immer wärmer und regen immer seltener, was mir sehr lag. Unzählige Geschäfte schmückten die Strandpromenade und sobald ich eine kleine Imbissbude entdeckte, die Reisbowls verkaufte, blieb ich stehen und wartete auf den nächsten Gast. Eine Frau mit einem gigantischen Sonnenhut kam und bestellte sich eine Schüssel To-Go-Reis mit vielen bunten Toppings. Ich freute mich darüber, dass sie keine Meeresfrüchte wählte. Die würde ich um nichts in der Welt runterkriegen. Als der Verkäufer die fertige, lecker riechende Bowl auf den Tresen stellte und die Frau bezahlte, huschte ich um die Ecke, hinter der ich gestanden hatte, und griff tonlos nach der Schüssel, um dann mit leisen Schritten davonzueilen. Fast erwartete ich ein schlechtes Gewissen, aber das einzige, was meine Gefühlswelt zu bieten hatte, war eine allumfassende Leere, die sich nach und nach mit den immer wieder zurückkehrenden Fragen füllte. Konnte ich es riskieren, morgen wieder zu dem Kioskbesitzer zu gehen? Wahrscheinlich wäre es das sicherste, aus der Stadt zu fliehen und am besten gleich den Kontinent zu verlassen. Wieso ich mich ausgerechnet in Amsterdam niedergelassen hatte, verstand ich selber nicht. Irgendwie bildete ich mir ein, ein Heimatgefühl für den Platz unter der Brücke entwickelt zu haben. Und außerdem war hier das Meer. Ich konnte das nicht einfach verlassen. Hier war meine Bank, auf der ich den Polarstern abends direkt vor der Nase hatte. Hier war der Mond, der sich abends aus dem Meer zu erheben schien.
Ich ließ mich auf meine Bank plumpsen und begann mit den Fingern den Reis herunterzuschlingen. Wenn meine Mutter bloß wüsste, was aus mir geworden war. Ich vermied es, darüber nachzudenken. Früher oder später erreichte jedes Straßenkind den Punkt, wo man ohne Hemmungen andere Leute mit Steinen bewarf, kämpfen und klauen konnte. Und ich wusste nicht, ob man da so leicht wieder raus kam. *


*An dieser Stele verweise ich darauf, was Lennox im 8. Band auf der Seite 325 im 2. Absatz gesagt hat (:


Lennox Scorpio - unter den SternenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt