Kapitel 7

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Unscheinbar wie ein Schatten huschte ich hinter einem Kunden zur Schiebetür hinein, denn diese öffnete nicht, wenn ich davor stand. So leise und unauffällig wie möglich schlich ich zur Obsttheke und ließ einen Apfel in meine Tasche gleiten. Als Nächstes eine Gurke. Ich schlich zum Ausgang des Ladens, an der Kasse vorbei und huschte zur Tür hinaus. Da ich kein Geräusch verursacht und niemand auf mich aufmerksam gemacht hatte, war ich für alle unsichtbar gewesen. Eigentlich war es hinterlistig meine Gabe zum Stehlen zu verwenden. Ich spürte vom Scheitel bis in den kleinen Zeh, dass ich sie für etwas anderes benutzen sollte. Aber da ich weder wusste für was, noch wie ich anders überleben sollte, nahm ich die Tatsache einfach so hin. Ich huschte in einen Bus, der soeben anhielt und setzte mich auf einen freien Platz. Genießerisch biss ich in den Apfel. Während ich den Apfel und danach die Gurke aß, hielt ich Ausschau nach meiner Mutter. Seit den Tagen auf der Straße suchte ich andauernd nach einer Frau mit schwarzen Haaren und blauen Augen. Irgendwo musste sie ja sein. Aber statt meiner Mutter sah ich, wie sich dichte, schwarze Wolken am Himmel bildeten und die Sonne verdeckten. Keine zehn Minuten später begann es zu regnen. Ein dicker Koß bildete sich in meinem Hals. Nicht schon wieder Regen! Wie zum Schutz griff ich nach meinem Regenschirm und legte ihn auf meinen Schoß. Inständig hoffte ich, dass bis der Bus die Endstation erreicht hatte, der Regen vorüber sein wird, aber die Hoffnung war so winzig, dass sie mir fast schon lächerlich erschien. Der Regen wird nicht aufhören. Nicht, bevor er mich bezwingen konnte. Große Tropfen sammelten sich auf der Scheibe und liefen dort strömend, wie kleine Flüsse hinab. Eigentlich mochte ich Wasser. Ich wusste nicht wieso, aber ein Teil tief in mir verspürte eine tiefe Verbundenheit, während der andere, intelligente Teil meines Körpers wusste, dass es nichts gab, was mir mehr schaden konnte. Manchmal wünschte ich, im Meer baden zu können, ohne dass ich danach höllische Kopfschmerzen, Fieber und Schüttelfrost bekam. Aber das wird leider nie möglich sein.
Endstation. Der Regen war nicht weniger geworden. Eher mehr. Und dazu kam noch ein schrecklicher Sturm, der die Regentropfen unberechenbar durch die Luft wirbeln ließ. Alles in mir sträubte sich dagegen den geschützten, trockenen Bus zu verlassen. Ein älteres Ehepaar betrat vor mir das Regengestöber, während ich mir die Kapuze meines Pullis tiefer ins Gesicht zog und den Regenschirm aufspannte. Nervös sah ich mich nach wassergeschützten Unterstellmöglichkeiten um, aber konnte weit und breit nichts erkennen. Hinter mir drängelten die Leute und da ich nicht hinausgeschubst werden wollte, verließ ich den Bus. Wind zerrte an meinem Schirm und ich wusste nicht recht, ob ich ihn vor, hinter oder über mich halten sollte. Hastig eilte ich in Richtung einiger Bäume und fluchte darüber, dass diese Bushaltestelle keine überdachten Sitzplätze hatte. Es dauerte nicht lange und einige Regentropfen durchnässten so manche Stellen auf meinem Pullover. „Scheiße!", fluchte ich leise, während ich zielstrebig auf einen großen Baum zulief. Da entdeckte ich das ältere Ehepaar, das soeben die Tür zu einem Haus aufschloss. Ich dachte nicht nach, lief einfach auf sie zu, klappte meinen Regenschirm zusammen und trat lautlos hinter ihnen in den Raum. Wir befanden uns in einer großen Eingangshalle. An der einen Wand hingen unzählige Briefkästen, an der anderen standen dicht an dicht einige Kinderwagen. Eine Treppe führte hoch zu den Wohnungen. Das Ehepaar lief diese hoch und schloss eine Tür auf. Ich huschte hinterher. Toller Tarneffekt. Leise wartete ich, bis die Beiden ihre Schuhe und Jacken ausgezogen hatten, dann schlich ich in einen mit Teppichboden ausgelegten Raum. Eilig strich ich meinen Pullover über den Kopf und legte ihn auf die Heizung. An der einen Wand befand sich ein Schrank, an dessen Türen Fotos von Kindern hingen. Ohne Zweifel: Das Ehepaar hatte Bilder von seinen Enkeln im Zimmer hängen. Fotos von glücklichen Familien in Tracht auf dem Oktoberfest. In einem Schwimmbad. Beim Schlittschuh laufen. Ich hätte ewig auf die Fotos der dieser Familien starren können, wenn es mir nicht einen so gewaltigen Stich ins Herz verpasst hätte. Lautlos ließ ich mich auf einem roten Sofa nieder und lauschte dem Regentropfenklopfen auf der Scheibe, bis es immer leiser wurde und ich, ohne es wirklich zu merken einschlief.
Als ich aufwachte, fiel mir ein, wie unfassbar waghalsig und dumm meine Aktion eigentlich gewesen war. Doch schnell wurde mir klar, dass selbst wenn die beiden mich entdeckt hätten, ich sie einfach hätte vergessen lassen können, dass ich jemals da war. Und schließlich war es besser, als im Regen zu sterben. Ich stand auf und blickte aus dem Fenster in den sternenklaren Himmel. Die Nacht war, genau wie der Regen noch nicht vorüber. Nur vereinzelt sah ich Leute mit Regenschirmen über den nassen Asphalt hetzen und wieder einmal suchte ich ganz automatisch unter den verschiedenen Gesichtern nach dem meiner Mutter. Ich lehnte den Kopf an die Fensterscheibe und drückte den Bauch an die Heizung unter mir. Unwillentlich klopfte eine Erinnerung an meinem Kopf.
„Geh einkaufen!", nuschelte er. Biergestank wehte in mein Zimmer als er die Tür aufriss und sich im Türrahmen deponierte.
„Es regnet. Ich kann nicht raus.", flüsterte ich. Ich saß am Fenster und blickte in den Regen.
Heftig schlug er mit der Faust gegen meine Schranktür. „Erzähl nicht so n Scheiß!", brüllte er. „Du wirst nicht vom Regen krank." So wie er es aussprach, klang es lächerlich. „Du kleiner Lügner!"
Vor meiner Nase beschlug die Scheibe, denn ich begann schneller zu atmen.
Mit schnellen Schritten lief er auf mich zu, packte meinen Arm und zog mich auf die Beine. „Faule Menschen kann ich nicht gebrauchen!" Er gab mir einen Schubs Richtung Türe, riss sie auf und ich stand mitten im Regen.

Lennox Scorpio - unter den SternenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt