Kapitel 11

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Die Sonne erhellte schon den Himmel im Osten und tauchte das Meer in ein warmes, rotes Licht als ich aufstand und mit meiner Gitarre über der Schulter in Richtung eines kleinen Ortes schlenderte. Dabei fiel mir sofort ein Lokal ins Auge. Ein knallrotes, eckiges Dach schützte das mit ozeanblauer Farbe bestrichene Holzhaus. Über der Eingangstür prangte ein verschlungener Schriftzug: „Seemann". Davor stand eine Meerjungfrauenstatue aus weißem Stein. Einzig und allein ihr Fischschwanz schimmerte in einem wunderschönen, geheimnissvollen türkis. Ich trat an sie heran und berührte den steinernen Fischschwanz. Sie wirkte wie aus einer anderen Welt, so geheimnisvoll und schön. Ihr Gesicht hatte freundliche Züge und das Haar sah aus, als würde es in den Wellen wehen. Der Macher dieser Statue hatte anscheinend eine genaue Vorstellung gehabt, wie diese Meerfrauen aussehen sollten. Irgendwas an der Imbissbude gefiel mir und obwohl ich keinen Fisch aß, lief ich darauf zu und öffnete vorsichtig die schwere, mit blauer Farbe bestrichene Tür. Sie knarzte nicht. Niemand würde mich sehen. Dafür sorgte mein Tarneffekt.
„Guten Morgen!", ertönte eine grummelige, tiefe Stimme.
Hektisch sah ich mich um und entdeckte einen Mann mit dunklem, längeren Haar und eingefallenen Gesichtszügen. Als ich ihn ansah, hob er nickend den Kopf. Er konnte mich sehen. Wie kam das? Perplex starrte ich den Mann an, der nun, als er mein Gesicht sehen konnte, die Augen weitete. Das Blau seiner Augen schien mich geradezu zu durchleuchten. Hastig fuhr er sich mit der rechten Hand durchs Haar, wobei ich ein paar seltsam aussehende Verkrustungen zwischen seinen Fingern entdecken konnte. „Komm her mein Kind!", raunte der Mann.
Er sprach auch noch meine Sprache! Und er konnte mich sehen!
Augenblicklich erwachte ich aus meiner Starre und stolperte zurück. Was auch immer hier los war, es war besser, wenn ich verschwand. Ich riss die Tür auf und verschwand genau so schnell, wie ich gekommen war. In zügigem Tempo eilte ich zu meinem Versteck, aber nicht, ohne davor noch einen Blick auf die Meerjungfrauenstatue zu werfen.

Ich zog meine Plastiktüten aus dem Gebüsch, in dem ich sie versteckt hatte, und ging zu meinen Platz unter der Brücke. Dort setzte ich mich auf den kalten Boden und packte meine Gitarre aus. Ich begann sie zu stimmen, als ich ein Rascheln hinter mir hörte. Ruckartig drehte ich mich um und scannte die Umgebung mit den Augen. Das Rascheln schien von den Büschen hinter mir zu kommen. Ich stand auf, schob ein paar Blätter zur Seite, doch sah nichts außer die kahlen Äste des Busches. Also setzte ich mich wieder auf den Boden und begann, ein leises Lied zu zupfen. Die Töne, die aus meiner schwarzen, verkratzen Gitarre heraussprudelten, klangen wie aus einer anderen Welt. Doch die melancholische Melodie in meinen Ohren wurde unterbrochen, als etwas Hartes, mit voller Wucht gegen meinen Hinterkopf knallte. Noch in der gleichen Sekunde, in der der Schmerz durch meinen Körper zuckte, wurde mir schwarz vor Augen und ich verschwand in einem Abgrund.

Als ich aufwachte, blendete mich die Sonne. Zwinkernd versuchte ich mir einen Blick über die Situation zu erhaschen. Was war geschehen? Wo war ich? Als ich versuchte, mich aufzurichten, dröhnte mein Kopf und jeder Herzschlag, der das Blut durch meinen Kopf pumpte, hörte ich klar und deutlich, wie ein Beben in meinen Ohren, das meinen ganzen Kopf erzittern lies. Erschrocken gab ich den Versuch auf und presste mir die Hand, auf der mein Körper gelegen hatte gegen die Stirn, als könnte ich das dröhnende Pochen beruhigen. Meine Hand wanderte an meinen Hinterkopf, von dem der Schmerz ausging. Ich spürte Nässe. Ängstlich hier mir die Hand vor die Augen, um nachzusehen. Ich blutete. Angst durchfuhr mein Inneres. Nicht wegen der Tatsache, dass ich blutete. Ich blutete oft, das machte mir keine Angst. Ich hatte Angst, weil ich hier auf der Straße ganz alleine war - mit dem Blut. Hoffentlich war es keine allzu schlimme Wunde, sonst hätte ich ein ernsthaftes Problem. Ich hatte am Rande erwähnt nämlich weder eine Krankenversicherung, noch Geld, um eine Behandlung zu bezahlen. Mit vor Schmerz zusammengepressten Augen rollte ich auf die Seite und zog die Knie ans Kinn. Direkt neben mir entdeckte ich einen etwa faustgroßen Stein, der an einer Seite Blutspuren hatte. Damit hatte man mich wohl abgeworfen. Wer tat so was? Sofort fragte ich mich, ob meine Gitarre noch da war. Gequält richtete ich mich auf, wobei ich meinen Kopf in meine Hände stützte. Augenblicklich wurde mir schwindelig, doch vernebelt entdeckte ich meine Gitarre keine zwei Meter von mir auf dem steinernen Boden liegen. Nachdem der Schwindel abgeebbt war, zog ich meine Tüten an mich heran und sah nach, ob noch alles da war. Ich hatte zwar eh nicht viel zu stehlen, doch mein dicker Rollkragenpulli war nicht mehr da. Außerdem fehlte das Käsesandwich, das ich vor einigen Tagen mitgehen hab lassen. Es gab nur eine Art von Dieben, die Interesse an einem Rollkragenpulli und einem Käsesandwich hatten? Ich wurde von Straßenkindern ausgeraubt. Wütend quälte ich mich auf die Beine, nicht ohne mir dabei meine Hand fest gegen den Hinterkopf zu pressen. Während ich mit dem restlichen Wasser, das ich noch hatte, die Wunde säuberte und ein altes T-Shirt zerriss, um es mir wie ein Stirnband um den Kopf zu wickeln, überkam mich ein beängstigendes Gefühl. Das Gefühl, dass ich hier nicht sicher war.

Am Abend lag ich noch lange wach, obwohl ich die vorherige Nacht nur für etwa eine Stunde auf einer eisernen Bank geschlafen habe und todmüde sein sollte. Stattdessen lag ich mit schmerzenden Kopf auf dem fleckigen Kissen und starrte die kahle Wand der Brücke an, unter der ich lag. Ich hatte Angst, dass der Steinwerfer wiederkommen würde. Ich wusste zwar nicht, was er von mir wollen könnte, da er nun wusste, dass es bei mir nichts außer einen Sandwich und einen Rollkragenpulli zu klauen gab, doch allein dieser Gedanke überzeugte mich nicht vollständig. Außerdem dachte ich noch lange über den Mann im Kiosk nach. Warum hat er mich gesehen? Und war es zufall, dass ausgerechnet er dann auch noch Deutsch sprach? Als ich nun genauer drüber nachdachte, war ich mir nicht mal mehr sicher, ob die Sprache überhaupt deutsch gewesen war. Aber ich hatte sie verstanden. Ich war genauso neugierig wie ängstlich und dachte darüber nach, was der Mann mir sagen wollte, als er „Komm her mein Kind.", geraunt hatte. Obwohl sich dieser Text irgendwie gruselig anhörte, ärgerte ich mich tierisch darüber, dass ich einfach abgehauen bin und nun nie erfahren würde, warum meine Gabe bei allen, aber nicht bei ihm funktioniert. Morgen würde ich nochmal hingehen. Ich würde mit ihm sprechen.

Lennox Scorpio - unter den SternenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt