Kapitel 5

286 20 6
                                    

So verrückt es auch klingen mag: Die nächsten Tage verbrachte ich in Bussen. Nicht nur, weil es dort um einiges bequemer und wärmer war als irgendwo auf einer Straße sondern auch weil ich weg wollte. Weg von meinem Zuhause, weg von meinem Vater,  von meiner Heimat. Das Essen klaute ich . Kurzzeitig versuchte ich mich mit Schnorren über Wasser zu halten, aber das geht schlecht, wenn einen niemand sieht. Ich wurde zum Dieb und so schlimm es auch klingen mag: Ich gewöhnte mich daran, ein Mal am Tag, unsichtbar wie ein Geist in Geschäfte zu huschen und das ein oder andere mitgehen zu lassen. Auch an das schlechte Gewissen dabei gewöhnte ich mich bald, denn das verschwand nie. Diesen Abend, saß ich in einem fast menschenleeren Bus, den Kopf an die kalte Scheibe gelehnt und die Hände tief in die Taschen meiner schwarzen Jacke gesteckt. Meine blauen Augen spiegelten sich in der Scheibe und das gruselte mich selbst ein wenig. „Habe ich die Augen von Mama?", ging es mir durch den Kopf. Von meinem Vater kamen sie nicht, soviel steht fest. Seine Augen sind grau, ohne jeden Glanz, wie alles an ihm. Vom Herz bis zu den Haaren - alles in einem tristen, gespenstischen grau. Meine Mutter musste krasse Augen gehabt haben, damit meine so aussehen konnten, wir sie aussahen. Hatte sie auch schwarze Haare gehabt? Ich fuhr mir mit der Hand durch mein Haar und vermisste mit einem Mal meine Mutter so sehr, dass es wehtat. Was aber am Meisten wehtat war, dass ich kaum Erinnerungen an sie hatte. Und die, die ich hatte, waren so ungenau und verschwommen, dass sie fast aus einem Traum stammen könnten. Ich wusste fast nichts über sie und dennoch war ich mir sicher, dass sie mich geliebt hatte. Kinder können nicht zwei Eltern haben, die sie nicht mögen.
Die Sonne war nun nur noch als schmaler, roter Streifen am Himmel zu sehen. Nun kam die Nacht, die ich so verabscheute. Sonnenuntergang ist das traurigste von allen Lichtern. Es verscheucht den Tag und empfängt die Nacht fast scheinheilig, als wäre sie etwas schönes, idyllisches, doch sobald das rote Licht am Himmel völlig verschwindet, bleibt nichts als die herrschende, undurchdringliche Dunkelheit, die ich als Straßenjunge so verabscheute.
„Endstation! Bitte alle Aussteigen!", tönte die kratzige Stimme eines Busfahrers, die mich aus einem Kurzschlaf rissen. Mit schlaffen Gliedern rappelte ich mich auf, griff nach meiner Tasche, schmiss mir den Gitarrenkoffer über die Schulter und verließ den Bus. Ein kalter Wind blies mir um die Nase, sodass ich fröstelnd die Schultern hochzog. Der mit Sternen übersäte Himmel war rabenschwarz. Es war bereits tief in der Nacht und ich konnte kaum noch die Augen aufhalten. Die angestaute Müdigkeit lies sich nicht mehr verdrängen und am liebsten wäre ich im stehen eingeschlafen. Mit zusammengekniffenen Lidern blickte ich auf den kleinen Monitor an der Bushaltestelle. Es fuhren keine Busse mehr. Seufzend schlürfte ich in die Richtung, an der ich einen guten Schlafplatz vermutete. Ich lief um ein großes Gebäude herum und fand neben einem mit Gras bewachsenen Streifen, eine überdachte Stelle, dicht an der Wand eines Hauses, an der der Putz an mehreren Stellen abgebröckelt war. Rings um das Haus standen dichte Büsche, und eine einzige Straßenlaterne ein paar Meter weiter, gab Licht auf eine bereits geschlossene Imbissbude frei. Ich lehnte mein Gepäck an die Hauswand, zog über meine Lederjacke noch einen dicken Pulli, legte meinen Kopf auf den Gitarrenkoffer und schlief ohne jeden weiteren Gedanken ein.

Lennox Scorpio - unter den SternenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt