Kapitel 10

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Das Wasser unter der Brücke lockte mich geradezu, ihm den schlängelnden Weg durch die Betonbodenlandschaft zu folgen. Ich wollte die Gegend erkunden, in der ich gelandet war. Mit der Gitarre über der Schulter und immer noch schlaffen Gliedern wanderte ich unter dem Sternenhimmel, um dem Fluss zu folgen. Ich hoffte, dass er in einem Meer mündete. In Lübeck war immer ein Meer in der Nähe gewesen und ich war mindestens einmal am Tag am Strand gesessen, um dem Rauschen zu lauschen, das Wellenspektakel zu beobachten und mir vorzustellen, wie Mama an genau an diesem Ort dasselbe getan hat. Ich war mir sicher, meine Mutter hatte das Meer geliebt.
Ich wusste nicht, wie viele Stunden ich dem kleinen Fluss folgte, aber ich entdeckte einen Hafen, an dem viele, verschiedene Schiffe lagen. Schlurfend schlenderte ich am Wasser entlang und sah auf das Meer hinaus, auf den Horizont und eine Fähre, die sich langsam davorschob und mir sie Sicht versperrte.
Wo war ich nur? Die Schrift an den Schildern und Wegweisern, die mir auf dem Weg begegnt waren, kam mir nicht bekannt vor. Seit ich vor einigen Tagen in einen Schnellzug gestiegen bin, hatte ich das Gefühl, unbeschreiblich weit weg zu sein. Die Menschen hier sprachen sogar eine fremde Sprache, die ich allerdings nicht einordnen konnte. Aus dem Augenwinkel sah ich, einen Mann mit vielen Tüten über der Schulter über die Straße hetzen. Ich dachte nicht lange nach und lief auf ihn zu.
„Excuse me?", sprach ich ihn an. Er blieb stehen und scannte mich mit einem Blick, als würde ich gleich einen Knüppel hinter meinem Rücken hervorziehen und ihm damit k.o. hauen. „Yes?", antwortete er mit prüfender Stimme. Durch den Schein, den eine Straßenlaterne auf sein dunkles Gesicht warf, konnte ich sehen, wie er die Augenbrauen zusammenzog.
„Where are we? In wich... country?", fragte ich in stockendem Englisch.
Die Augenbraue des Mannes verschwand in seinem Haaransatz. „In Amsterdam of course!" Kopfschüttelnd fügte er hinzu: „The capital of the Netherlands!"
„Oh, thank you!" Hastig drehte ich mich um und eilte davon, während auch der Mann seinen Weg vorsetzte. Ich war also in der Niederlande.
Plumpsend ließ ich mich auf einer Bank, mit Blick auf den Hafen nieder. Tausend Sterne funkelten über dem schwarzen Meer und die grellen Straßenlaternen leuchteten die angelegten Boote an, die darauf schaukelten. Ein großer, runder Mond ließ das Schwarz des Meeres an einer Stelle, nahe am Horizont strahlen. Es war wunderschön. Und es machte mich glücklich, dass ich nach all dem Kummer, der Einsamkeit und des Kämpfens mal wieder schönen Dingen begegnete. Mit einem zaghaften Lächeln auf den Lippen lehnte ich meinen Kopf nach hinten in meine überkreuzten Arme und blickte in den Sternenhimmel. Sofort sprang mir ein Stern ins Auge. Ich kannte mich nicht wirklich mit Sternbildern aus und doch wusste ich genau, dass das der Polarstern war. Denn diesen würde ich sogar mit verbundenen Augen finden. Greys Worte, als er mir die einzige Sache verriet, die ich über meine Mutter wusste, klopften an meiner Erinnerung. „Deine Mutter hatte eine Schwäche für den Sternenhimmel. Fast jeden Abend hat sie wie so ne Irre in den Himmel geglotzt und ihren Lieblingsstern, diesen Polarstern angegrinst."
Und mit einem Mal hatte ich das starke Gefühl, dass da oben jemand ist, der über mich wacht.

Lennox Scorpio - unter den SternenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt