Kapitel 12

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Ich wachte auf, weil etwas an meinem Ohr raschelte. Erschrocken fuhr ich in die Höhe und blickte geradewegs in zwei kastanienbraune Augen eines Mädchens. Ihre schulterlangen Haare hingen ihr wie ein Vorhang vorm Gesicht und trotzdem konnte ich ihren erschrocken Gesichtsausdruck sehen. Meine Augen wanderten von ihrem Gesicht runter auf ihre Arme, die tief in meinen Plastiktüten steckten.
„Sag, mal geht's noch?", zischte ich, während ich ihre Hände aus meinen Taschen schlug.
Sie strich sich hektisch eine Strähne hinters Ohr, während sie aufstand und allem Anschein nach verschwinden wollte. Doch ich griff nach ihrer Jacke und zog sie auf den Boden. „Was fingerst du in meinen Sachen rum?", keifte ich. „Hast du dir was genommen?!" Prüfend blickte ich auf die tiefen Taschen ihrer Jacke. Das Mädchen antwortete nicht. Sie durchleuchtete mich nur mit ihren braunen Augen, doch ich selbst konnte in keiner Weise auf ihr Inneres schließen.
Ich streckte den Arm aus, um in ihre Tasche zu greifen, doch sie holte aus und verpasste mir unerwartet eine Ohrfeige. Ich stand auf, die Hände zum Schutz vor meiner Brust. „Gib mir, was du mir gestohlen hast!", knurrte ich.
Vergiss es. Obwohl das Mädchen einen halben Kopf kleiner war, als ich baute sie sich vor mir auf. „Wenn du in unserem Gebiet schläfst, musst du damit rechnen, dass wir uns unsere Miete erbeuten!" Sie wirkte nicht mehr gefährlich also lies ich die Hände sinken. Eine Weile sahen wir einander nur an, bis sie irgendwann begriff, dass sie mit meinem Zeug in den Taschen nicht einfach verschwinden könnte.
Also griff sie in ihre Tasche, doch anstatt das, was sie gestohlen hatte herauszuziehen, wirbelte sie herum und verpasste mir einen Tritt in die Hüfte. Wuchtig knallte ich zu Boden. Mein Kopf prallte seitlich auf einen Stein. Mit schmerzverzerrtem Gesicht setzte ich mich hin und betastete meine Schläfe. Es war nur eine Schramme. Als ich wieder auf den Beinen war, sah ich das Mädchen nur noch durch die Dunkelheit davoneilen. Ich stieß ein verzweifeltes Lachen hervor, während ich in den Tüten nach dem gestohlenen Gegenstand kramte. Es fehlte mein Regenschirm. Diese Kinder klauen auch wirklich jeden Scheiß! Nein, das ließ ich mir nicht länger gefallen. Diesen Regenschirm würde ich mir zurückholen. Mit schnellen Schritten rannte ich in die Richtung, in der das Mädchen verschwunden war. Der kalte Wind blies mir ins Gesicht und lies meine Augen tränen, als ich über den matschigen Boden eilte. An der ersten Abzweigung blieb ich stehen und lauschte über meinen schnellen Atem hinweg. Ich hörte platschende Schritte vor mir. Sie war nicht weit weg. Ich nahm die Abzweigung, in dessen Richtung ich die Schritte hörte und bemühte mich, leiser durch den Matsch zu rennen. Ich lief immer schneller und hörte die stapfenden Schritte vor mir immer deutlicher, bis sie augenblicklich verstummten. Auch ich blieb stehen und blickte mich hektisch in alle Seiten um - alle Sinne aufs äußerste geschärft, um nicht von hinten überfallen zu werden. Das Mädchen hatte mir schon zwei Schläge verpasst, noch einmal würde mir das nicht passieren. Hinter einem breiten Busch bildete ich mir ein, etwas Großes, Schwarzes zu sehen. Langsam näherte ich mich an und desto näher ich war, desto sicherer war ich auch, dass es eine Person war, die dahinter stand. Mit immer schneller werdenden Schritten stiefelte ich auf den Busch zu um die Äste beiseitezuschieben und mir meinen Schirm zurückzuholen. Auf einmal hörte ich etwas hinter mir. Es war eine Mischung aus stampfenden Schritten und keuchendem Atmen. Blitzschnell drehte ich mich um, doch ehe ich genauer in die kastanienbraunen Augen blicken konnte, wurde mir von der Seite ein heftiger Schlag versetzt, sodass ich auf den Boden krachte. Über mich beugte sich der riesige Schatten eines älteren Junges. Alles, was ich an ihm erkennen konnte, war ein schwarzer Mantel, der um seine Schultern hing. Neben ihm stand das Mädchen. Es hatte meinen Schirm in der Hand und blickte immer noch so emotionslos drein wie zuvor. Ich wollte aufstehen, doch der Junge stellte seinen Fuß auf meine Brust, während das Mädchen mir bedrohlich meinen ausgefahrenen Schirm unter die Nase hielt. Im Augenwinkel konnte ich erkennen, wie die Gestalt hinter den Busch hervortrat. Es war ein kleiner Junge, der sich nun ebenfalls um mich herumstellte. Ich fragte mich, wie viele Gestalten hier noch auftauchen sollten, als der älteste Junge mit kratziger Stimme fragte: „Was machst du in unserem Revier."
Schnaubend schlug ich mir den Schirm aus dem Gesicht. „Wenn du reden willst, dann nimm deinen Schuh da weg!", forderte ich, woraufhin der ältere Junge dem Mädchen einen Blick zuwarf, als erwarte er ihre Meinung dazu.
„Du brauchst gar nicht wegzurennen. Wir finden dich hier überall.", gab sie mit bedrohlicher Stimme von sich, während der Junge seinen Fuß von meiner Brust nahm. Ich richtete mich auf. Als ich den Dreien direkt gegenüber stand, konnte ich erkennen, dass sie alle die gleichen kastanienbraunen Augen und rußschwarzen Haare hatten. Das mussten Geschwister sein. Ihre Gesichter waren dreckig und mit einigen Schrammen versehen. Außerdem trugen alle sie selben, gigantischen Mäntel mit den riesigen Taschen. Alles in einem wirkten sie zwar stark, aber nicht so, als könnten sie mir irgendetwas Schlimmes antun.
„Das Mädchen hat mich beklaut. Und ich bin hier um mir zurückzuholen, was mir gehört.", sagte ich zu dem etwa fünfzehnjährigen Jungen.„Was hast du geklaut?", fragte der Junge das Mädchen flüsternd.
Kommentarlos hielt sie meinen Regenschirm in die Höhe.
„Deswegen der ganze Aufstand?", fragte der kleinste Junge genervt und boxte das Mädchen in die Seite. „Der ist ja mal absolut nix wert!"
„Erst der kratzige Pulli und nen gammeligen Käsesandwich und jetzt einen Regenschirm?!", gab der große Junge flapsig von sich.
„Der hatte nix Brauchbareres!", argumentierte das Mädchen. „Spiel dich mal nicht so auf, Matteo! Das letzte Mal kamst du mit einer Hand voll Vogelfutter!"
„Gut. Deinen Schirm kannste wiederhaben.", meine der kleine Junge und hielt mit meinen Regenschirm hin. „Aber lass dich nie wieder in unserem Revier blicken oder es gibt richtig Stress. In unserem Revier darf man nicht wohnen, wenn man nix zum Klauen hat."
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass euer Stress schlimm sein sollte.", erwiderte ich und nahm den Schirm entgegen. „Ich schlafe, wo ich will. Da könnt ihr nichts dran ändern. Die Stadt gehört nicht euch."
„Aber die Brücke schon!" Der größte Junge trat näher an mich heran und ich straffte die Schultern.
„Ich bin mit einem aggressiven Vater aufgewachsen. Ihr macht mir keine Angst.", knurrte ich.
„Wir auch.", zischte das Mädchen, ohne sich der Bedeutung ihrer Worte bewusst zu sein, denn augenblicklich zog der kleinste Junge den Kopf ein. Der Große vergrub die Fäuste in seinen Manteltaschen und schien anscheinen nun doch kampflos aufgeben zu wollen. Zumindest nahm ich das an. Ich drehte mich um und lief den Weg wieder zurück zu meinem Platz unter der Brücke, den mir niemand nehmen konnte. Dort legte ich mich hin, als wäre nichts gewesen und versuchte zu schlafen, um morgen mit dem geheimnisvollen Mann im Kiosk zu reden.

Lennox Scorpio - unter den SternenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt