Kapitel 15

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Als ich an diesem Tag unter meiner Brücke aufwachte, beschloss ich, zu dem Mann zurückzukehren. Ich war nicht nur zu neugierig, um es nicht zu tun – auch musste ich einfach erfahren, was es war, was uns verband. Ich schulterte meine Gitarre und stiefelte los. Amsterdam schimmerte morgenfrisch und die ersten Schiffe schipperten durch die Grachten. Ich überquerte meine Lieblingsbrücke, auf der ich einen wunderschönen Blick auf die bunten, dünnen, krummen Häuser hatte. Da erreichte ich auch schon den Imbiss. Ohne zu zögern, öffnete ich die Tür. Doch zu meinem Erstaunen war diesmal nicht mehr der Mann hinter der Theke. Stattdessen stand dort ein junges Mädchen. Good tag!, grüßte sie mich.

Ist der Mann heute nicht mehr da?, fragte ich in meinem schlechten Holländisch.

Welcher Mann?

Die Bedienung mit den blauen Augen.

Das Mädchen lachte. Du meinst bestimmt Xeno! Der hat heute Morgen frei. Aber zur Mittagsschicht kommt er wieder. Sie wischte mit einem Lappen über den Tresen. Was willst du denn von ihm? Ich kann mindestens so gut Kaffe kochen wie er!

Ich will mit ihm reden.

Dann komm so gegen zwölf Uhr wieder. Dann müsste er kommen.

Ok. Danke. Doei!

Das Mädchen winkte. Doei.

Ich trat aus der Ladentür. Was sollte ich solange machen? Ich hatte zwar keine Uhr, aber es war höchstens zehn. Ich lehnte mich gegen die Meerjungfrauenstatue und seufzte. Dann würde ich eben hier sitzen und warten. Ich glitt auf den Boden, verschränkte die Knie ineinander und holte meine Gitarre heraus. Leise begann ich, sie zu stimmen und eine Melodie zu zupfen. Die holländische Luft wehte mir die Haare sanft aus der Stirn und ich versank in dem Lied. Es war, als würde ein sanfter Nebelschleier die gehetzte Atmosphäre, die mich umgab vermummen und mich hier und jetzt in meiner Musik gefangen halten. Ich zupfte den letzten Akkord und genoss den Klang. Doch als dieser noch nicht einmal vollständig verklungen war, schreckte ich hoch, denn ein Mädchen, das unmittelbar vor mir stand, sagte: Der spielt nicht schlecht oder?

Wer?, fragte, ein kleiner Junge und das Mädchen, dass mich aus irgendeinem Grund sehen und hören konnte, zeigte nun auf mich. In diesem Augenblick schien ich für die anderen drei Personen, die mit dem Mädchen aufgetaucht waren, sichtbar zu werden und sie weiteten die Augen. Ah, der! Die ganze Situation war unheimlich. Ich erinnerte mich nicht daran, wann mich das letzte mal drei Personen gleichzeitig gesehen hatten.

Warum konnte das Mädchen mich sehen? Ich blickte sie an und erschrak. Sie war hübsch, aber etwas ganz anders brachte mich gerade völlig aus dem Konzept. Sie hatte zwei katzenartige, grüne Augen. Etwas versetzte meinem Herz einen Stromschlag. Verdutzt und erschrocken schnappte ich nach Luft, nicht ohne unbeirrt weiterzuzupfen. Jedoch konnte ich meinen Blick nicht mehr von den Augen abwenden. Irgendetwas passierte in mir. Als wusste mein Körper etwas, das ich nicht wusste. Schnell senkte ich den Kopf wieder und starrte viel zu konzentriert auf meine linke Hand. Der spielt der Hammer!, sagte nun einer der vieren und nun realisierte ich auch, dass er nicht Holländisch sprach, sondern Deutsch. Kannten sie mich, oder warum starrten sie mich so an? Waren sie Leute aus meinem alten Ort oder meiner alten Schule? Kannten sie meinen Vater und würden meinen Standort verpfeifen? Schnell beendete ich das Lied und erschrak, als die vier Personen zu klatschen begannen. Halb verschämt halb verwirrt runzelte ich die Stirn, da warf der kleinste von den vieren eine Münze auf mich zu. Was ging hier vor sich? Der große Junge trat an mich heran und lobte mich auf Holländisch für mein Gitarrenspiel. Ich antwortete jedoch nicht, sondern schulterte meine Gitarre. Ich musste hier weg. Nun beugte sich er sich auch noch auf meine Höhe und sah mir mitten in die Augen. Ein Schreck fuhr mir durch alle Glieder. Bist du weggelaufen?, fragte er nun. Ich sehe doch an deinen Klamotten, dass du kein zu Hause hast.

Erschrocken riss ich die Augen auf. Was wollte er von mir? Mich ans Jugendamt verpfeifen? Wahrscheinlich. Hastig sprang ich auf, schleuderte mir meine Gitarre über die Schulter, um fortzugehen, doch der Junge der wahrscheinlich schon erwachsen war, rief mir nach: Ey! Ich habe dich etwas gefragt! Ich verharrte in meiner Bewegung und drehte mich um. Mit eiligen Schritten lief ich auf den Jungen zu und fing ihn in meinem Blick. Ich war nie hier., raunte ich und sah, wie jegliche Erinnerung an mich aus seinem Gehirn radiert wurde. Schon wand ich mich an das Mädchen, das mich ebenfalls beobachtet hatte. Ich tat dasselbe bei ihr und dem kleinen Jungen. Das Mädchen mit den Katzenaugen starrte mich erschrocken an, da war ich schon bei ihr und blickte in die Augen. Ich war nie hier., sprach ich und wartete darauf, dass meine Worte in ihrem Kopf wirkten und ein weiches nichts hinterließen. Doch die Augen des Mädchens schienen geradezu unveränderbar zu sein. Als könnten meine Kräfte nicht durch ihre Augen dringen. Hatte ich etwas falsch gemacht? Es funktionierte doch immer so? Ich... war nie hier!, wiederholte ich stockend. Doch es funktionierte wieder nicht. Ihr Blick blieb starr wie eine Wand. Verwirrt drehte ich mich um und lief davon. Was war das denn gewesen? Was stimmte mit diesem Mädchen nicht? Hatte sie mich tatsächlich nicht vergessen? Ich blickte mich erneut um und sah, wie ihr Blick auf mir lastete. Fassungslos starrte sie mich an, und dabei sah sie auch noch so hübsch aus. Mein Herz pochte wie verrückt. Irgendetwas stimmte nicht mit mir. Und mit ihr aber auch nicht. Zaghaft hob sie nun die Hand. Ogott. Ich nahm die Beine in die Hand und rannte.

Ich zwängte mich durch die Menschenmengen, vorbei an der Kirche, über den Marktplatz, nicht ohne mich immer wieder umzusehen. Folgte sie mir etwa? Als ich bei dem Park angekommen war, warf ich einen letzten Blick über meine Schulter. Sie war nicht mehr hier. Warum fühlte es sich nur so falsch an, von ihr wegzurennen? Ich schlug mir gegen die Stirn. Sie war gruselig! Es war gut, dass sie mir nicht gefolgt ist! Ich kratzte mich am Kopf. Der Mann im Kiosk konnte mich sehen und war mit mir irgendwie verbunden. Wir waren gleich. Wir teilten dieselbe Besonderheit. Dieses Mädchen konnte mich ebenfalls sehen und ich konnte sie nichts vergessen lassen. Was, wenn wir ebenfalls gleich waren? Sie war ausnahmslos etwas Besonderes. Und vielleicht kannte sie Antworten! Irgendwie konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Von irgendeinem Instinkt geleitet, drehte ich mich um, um zu ihr zurückzulaufen. Ich musste sie kennenlernen. Irgendein Teil in mir fühlte sich mit ihr verbunden und mit einem Mal schien mein Kopf nicht mehr zu regieren. Meine Schritte wurden schneller, bis ich zu rennen begann. Über den Marktplatz, vorbei an der alten Kirche, über die Brücke und zu der Imbissbude. Auf der gegenüberliegenden Seite, der Einkaufsstraße blieb ich neben einer Bäckerei stehen, denn ich sah sie. Sie stand vor der Meerjungsfrauenstatue und hob den Kopf. Ihr Blick streifte suchend über die Menschenmengen und blieb felsenfest an mir hängen. Ich erschrak. Hatte ich die falsche Entscheidung getroffen?

Lennox Scorpio - unter den SternenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt