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Sie konnte ihn wieder nur anstarren, denn sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Seine braunen Augen schimmerten sanftmütig und doch strahlte noch etwas anderes in ihnen: Besorgnis. Galt die ihr? Aber wieso? Er kannte sie nicht und sie hatte sich schließlich bis auf die Knochen blamiert. Seit Jessis Tod hatte sie nicht eine Träne vergossen, nachdem sie zur Besinnung gekommen war und dann brach sie in den Armen eines Fremden völlig zusammen. Der jetzt wirkte, als wolle er das Geschehene nicht einfach so stehen lassen. Oder warum stellte er sich ihr sonst vor?

Er war groß und überragte sie locker um einen Kopf, hatte breite Schultern, dunkles Haar und über seinen Augen lagen gerade Augenbrauen, die er in diesem Moment anhob, weil er wohl auf eine Antwort wartete. Aber sie wusste nichts dazu zu sagen. Also schwieg sie und vertiefte sich wieder in seinen Anblick. Sein Haar war so eine Wuschelfrisur, wie sie sie immer irgendwie gut gefunden hatte und es zeichnete sich ein leichter Bartschatten auf seinen Wangen ab, der auch seinen Mund umgab. Die Nase war wohl schon mal gebrochen gewesen, denn sie hatte einen kleinen Höcker. Er war ungefähr so alt wie sie - Mitte 20. Er wirkte sportlich, obwohl der Wollmantel viel von seiner Statur verbarg. Plötzlich merkte sie, dass sie ihn ungeniert anstarrte, und zwang sich, den Blick von ihm zu nehmen.

„Hallo. Ich ... ich muss los. Die Szene ... ich ... es tut mir leid", murmelte sie und wollte sich abwenden, doch dann schoss seine Hand vor.

Irritiert sah sie ihn an und er fragte: „Wen hast du verloren?"

„Jessi", erwiderte sie wie aus der Pistole geschossen, bevor ihr einfiel, dass er sie ja nicht gekannt hatte und er deswegen mit diesem Namen nichts anfangen konnte, also fügte sie an: „Meine beste Freundin. Eher Schwester."

Jetzt trat Betroffenheit in seinen Blick und sie fragte sich nicht zum ersten Mal, wie seine Augen so ausdrucksstark sein konnten. Sie konnte fast jedes der Gefühle benennen, das sich darin spiegelte. Das war nicht normal. Nicht für sie. Sie war nicht gut darin, in Menschen zu lesen. Das hatte sie doch jetzt gerade erst bei Jessi bewiesen. Da hatte sie es auch zu lange nicht begriffen.

„Streit oder Tod?", drang leise an ihr Ohr und sie riss sich zusammen und sah ihn an, statt durch ihn hindurch.

‚Ich bin so unendlich müde', dachte sie und merkte erschrocken, wie der Kloß in ihrem Hals erneut platzte und sie flüsterte: „Ich wünschte, wir hätten nur gestritten."

Aufs Neue brach gewaltsam ein Schluchzen durch ihre Kehle über ihre Lippen und sofort hatte der Kummer sie wieder voll im Griff. Sie spürte, wie erneut ein unaufhaltsamer Strom von Tränen über ihre Wangen lief und wollte sich zusammennehmen. Schon zum zweiten Male heute produzierte sie eine Szene vor dem Fremden. Aber der Sturm, der in ihr wütete, unterdrückte im Moment noch die Scham darüber. Sie bemerkte durch den Tränenschleier, wie Til einen Schritt auf sie zumachte und sie zurück zu sich zog. Diese Berührung setzte sie - wie zuvor - zusätzlich schachmatt. Doch sie hatte keine Kraft, sich diesem Sog zu widersetzen. Also lehnte sie sich wieder gegen ihn, während der Druck in ihrer Brust ihr Herz fast explodieren ließ.

„Ich hätte mehr tun müssen. So viel mehr. Ich hab versagt. So furchtbar versagt. Jetzt ist sie weg. Unwiderruflich. Und ich soll damit weiterleben. Jessi war doch die Stärkere. Wie soll ich das denn machen?", brachte sie mühsam hervor und wusste im Grunde nicht, warum sie das erzählte.

„Einen Schritt nach dem anderen, Leonie", hörte sie nahe ihrem Ohr und schüttelte automatisch den Kopf.

„Aber es ist so schwer. Alle sagen, es wäre nicht meine Schuld, doch sie haben Unrecht. Ich hätte früher merken müssen, was vor sich geht. Ich kannte sie mehr als die Hälfte meines Lebens und hab nicht bemerkt, wie sie krank wurde. Es war zu spät, als ich es kapierte. Ich bin so egoistisch. So furchtbar selbstbezogen. Sonst hätte ich doch gemerkt, dass meine beste Freundin nicht nur ,bloß' traurig ist. Dann hätte ich registriert, dass sie krank war. Aber ich war zu beschäftigt, um es zu bemerken. Wie soll ich mir das verzeihen? Sie ist weg und ich kann es nicht mal mehr gutmachen!", sagte sie mit Nachdruck und nahm plötzlich wahr, dass seine Hand sachte durch ihr Haar streichelte.

Das brachte sie zur Besinnung, sie löste sich rasch von ihm und murmelte: „Ich bin müde. Ich muss los."

„Wohnst du in der Nähe?", erkundigte er sich und sie sah ihn verwirrt an.

„Ja", erwiderte sie, aber dann registrierte sie erst, wo sie war, und schüttelte den Kopf, ehe sie zugab: „Doch ein Stück. Ich hab nicht gemerkt, wie weit ich gelaufen bin."

„Ok. Wird es eben ein längerer Spaziergang", entschied er und sie schaute ihn verwirrt an.

„Äh, ich hab keinen Sex mit Fremden", erwiderte sie und als sie merkte, was sie gerade geantwortet hatte, kroch bereits Hitze in ihr Gesicht und sie stammelte: „Ok. Ich weiß nicht, warum ich das gesagt hab. Überhaupt. Wieso ich mich so verhalte. Ich verlier den Verstand. Das muss es sein."

Jetzt lief ihr eine Gänsehaut über den Rücken, weil er leise lachte, ehe er mit den Schultern zuckte und scherzte: „Schon ok. Ich begleite dich trotzdem. Obwohl ich offenbar auf Sex verzichten muss."

„Ja, äh, ja", murmelte sie und drehte sich vorsichtshalber um, um loszulaufen.

Sie merkte, dass er zu ihr aufschloss und als er neben ihr war, fragte er leise: „Depressionen also, richtig?"

„Ja", sagte sie nur und hoffte, dass er sich damit zufriedengab.

Denn einerseits schwamm der Kummer nah an der Oberfläche und andererseits hatte sie das Gefühl, dass sie plötzlich nicht mehr ganz so heftig fror. Obwohl sie komplett durchgefroren war. Immerhin hatte sie bei ihrem ersten Zusammenbruch auf dem eiskalten Boden gesessen. Vermutlich bekam sie eine Blasenentzündung davon. Wusste doch jeder Mensch, dass es nicht gut war, sich auf kalte Böden zu setzen. Wieso dachte sie darüber nach?

„Wie lang ist es denn her?", fragte er und sie warf ihm einen Seitenblick zu.

„Sechs Wochen. Ich hab gedacht, es wird leichter. Aber so ist es nicht. Mir wird nur jeden Tag klarer, dass ich die Karre an die Wand gefahren hab und nichts das jemals wieder gut machen kann", stellte sie fest und merkte, wie er sie musterte.

Dann seufzte er und erwiderte: „Das, Leonie, kommt ganz auf die Perspektive an."

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NachbebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt