Er löste sich von ihr und schaute ihr verdutzt in ihre Karamell-Augen mit Mokka-Einschuss, die ihn weiterhin so bezauberten. Von denen er weiter nicht genug bekommen konnte, weil sie ganz tief in seine Seele blickten. Wie sie es von Anfang an getan hatten, ohne, dass es Leonie gewusst hätte.
Jetzt musterte er ihr Gesicht und schlagartig erfüllte ihn Ruhe. Er hatte solche Angst gehabt, nicht geahnt, was ihn erwartete und obwohl er sich dagegen gewehrt hatte, waren Zweifel in ihm hochgekommen: Ob Leonie wirklich so stabil war, wie sie sich und ihn immer wieder Glauben gemacht hatte. Immerhin hatte er das mit seiner Ma ebenfalls nicht kommen sehen. Die hatte auch tief in sich verborgen, wie es ihr tatsächlich ging.
‚Doch Leonie ist nicht meine Mutter', erinnerte er sich und sah, dass ihre Augäpfel rotgeädert waren, seine Freundin aber ansonsten sehr aufgeräumt wirkte.
„Du willst Abschied nehmen?"
„Ja. Es wird Zeit."
„Ach ja? Wie kommst du zu dem Entschluss?"
„Das sagt mir mein Bauch."
„Ah, ja? Dein Bauch also, ja?"
„Ja. Du weißt doch, dass ich jetzt versuche, die Entscheidungen mehr aus dem Bauch heraus zu treffen. Bei dir hat's ja ganz gut geklappt..."
„Nur ganz gut?", zog er sie auf und sie zuckte mit den Schultern, während sich ein leichtes Lächeln auf ihre Gesichtszüge schlich.
„Ja, bisher machst du dich ganz gut in meiner Blase. Obwohl du so breite Schultern hast und so groß bist, brauchst du erstaunlich wenig Platz. Ich denke, ich behalte dich."
„Das ist aber nett von dir", erwiderte er leise lachend und spürte, wie die restliche Anspannung auch von ihm abfiel.
Er beugte sich vor und drückte sanft die Lippen auf ihre, ehe seine Augen auf das gefaltete Blatt in ihrer Hand fielen, das trotzdem kaum wahrnehmbar zitterte. Leonie war seinem Blick gefolgt und als sie ihr Gesicht jetzt anhob, spiegelte sich ein bisschen Trauer in ihrem Karamell mit Mokka-Einschuss. Doch auch etwas anderes: Erleichterung.
„Was steht drin?"
„Du bist neugierig."
„Immer. Aber nur, wenn es dich betrifft."
„Lies selbst."
Damit reichte sie ihm den Brief und er sah sie verwundert an. Er griff danach, bevor Leonie ihre Hände in die Taschen ihrer Jeans vergrub und auf den Fluss hinaussah, der unter ihnen seinen Lauf nahm. Er bemerkte schon, dass die Worte, die Jessi für sie erdacht hatten, irgendwas mit ihr gemacht hatten: In diesem Augenblick strahlte sie mehr Ruhe aus, als sie es je getan hatte. War es wirklich knapp sechs Monate her, seit sie nur ein paar Meter von hier in ihn hineingelaufen war? Einen Tag bevor sie mager in einem Sommerkleid in der Küche auf ihn zukam. Kaum zu glauben. Jetzt sah sie zum Horizont und ein sachtes Lächeln hob ihre Mundwinkel. Ihre ganze Haltung hatte sich in dieser Zeit verändert, fiel ihm plötzlich auf und sah nochmal auf das Blatt in seiner Hand. Im Grunde war es egal, was darin stand. Es hatte seiner Freundin sichtlich gutgetan, das sollte reichen. Doch die Neugier siegte, also entfaltete er das Papier.
„Meine Leo,
die Welt ist so dunkel, sie erstickt mich. Ich weiß, dass du gekämpft hast, um mir Licht zu schenken. Aber die Wände kommen trotzdem näher, zerquetschen mich, sobald ich die Augen aufschlage. Du stellst dich dazwischen, willst es aufhalten, das spüre ich. Aber ich fühle auch, dass ich dabei bin, dich in meinen Abgrund zu ziehen. Du balancierst nur noch am Rand entlang und ich kann nicht verhindern, dass du Gefahr läufst, genauso abzurutschen. Ich will nicht, dass du da ankommst, wo ich bin. Ich bin längst verloren, bin ein kraftloser Zombie, der das Unvermeidliche herauszögert. Ich bin mit ihnen in diesem Wagen gestorben, du hättest mich nicht zurückholen können. Ich habe es versucht. Du hast es versucht. Du hast alles aufgegeben, um mich aus dem Loch zu ziehen, und ich wurde zu einem Klotz an deinem Bein. Das hast du nicht verdient. Hast du alles richtig gemacht?"
Er merkte, wie seine Hand noch mehr zitterte und sah seine Freundin an, weil er bemerkte, dass sie ihn musterte. Als müsse sie ergründen, was Jessis Worte mit ihm machten. Doch seine Gedanken waren nur bei Leonie. Kamen nun die Vorwürfe, die sie erwartet hatte? Beruhigte es sie am Ende nur, dass sie Recht gehabt hatte?
‚Das wirst du nur herausfinden, wenn du weiterliest', sagte er sich, griff nach Leonies Hand, verschränkte seine Fingern mit ihren.
Er vertiefte sich wieder auf die krakelige Handschrift auf dem Blatt vor ihm, auf dem die Tinte teilweise verschmiert war und las:
„Hab ich alles richtig gemacht? Was ist schon richtig, was ist falsch? Wir sind unterschiedlich mit dem Unfall umgegangen, das ist alles. Ich mache dir keinen Vorwurf. Hab ich nie. Du hast genauso gelitten wie ich, nur auf deine Weise. Aber du warst immer die Stärkere von uns - auch, wenn du mir jetzt widersprechen würdest. Tatsache ist: Wir konnten Anne Völkers und ihr Baby nicht retten. Doch ich kann dafür sorgen, dass du nicht mit mir untergehst. Der Kampf ist vorbei, Leo. Atme. Hör auf deinen Bauch und dein Herz, es war schon immer golden, du willst das nur nicht sehen. Verzeih mir, dass ich diese Entscheidung treffe. Ich will dich nicht in dieser Blase. Sie ist so beängstigend, erstickt dich und egal, wie sehr jemand um dich kämpft, es fällt keine Helligkeit hinein. Du hast jedes Licht verdient, du bist das Licht, ich bin nur noch Finsternis. Ich lasse nicht zu, dass deine Flamme erlöschen wird. Dich kann ich retten. Ich werfe dich jetzt aus meiner Blase. Ich bin sowieso schon tot.
J."
Er spürte, dass Tränen über seine Wangen liefen, als Leonie auf ihn zutrat und ihm sanft über die Wangen strich. Hatte seine Mutter aus dem selben Grund gehandelt? Wollte sie ihn am Ende vor sich schützen? So wie Jessi das mit seiner Freundin gemacht hatte, deren Karamell ebenfalls in Tränen schwamm?
„Ich glaube, die Antwort ist ja, Til."
„Woher...?"
„Keine Ahnung. Ich fühle es einfach. Sie hatte Recht, weißt du? Jessi hat Recht. Ich hätte weitergekämpft, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, wie dunkel meine Welt schon geworden war. Du hast mir erzählt, dass du deine Mutter immer aufmuntern wolltest. Doch manchmal ist die Krankheit einfach stärker. Zum Glück nicht jedes Mal. Viele schaffen es, können sich schrittweise zurück kämpfen. Manche eben nicht. Jessi und deine Mutter nicht. Aber es sind nicht nur die Menschen betroffen, die erkrankt sind. Das Umfeld auch. Wir waren genauso Teil davon, sind es noch. Ich glaube, sie wollten uns eine Chance schenken, zu leben. Auch, wenn ihr Weg beschissen war. Wer sagt, dass ihr Vorgehen logisch sein muss? Nichts an Krankheiten macht Sinn."
Er dachte über ihre Worte nach und nickte seufzend, ehe er die Stirn an ihre legte und in ihre Karamell-Augen eintauchte. Nichts ergab einen Sinn und doch war ihre Aussage tröstlich. Er hätte es auch nicht verhindern können. Er war zu jung gewesen. Leonie hatte gekämpft und trotzdem verloren. Nicht logisch, aber Tatsache. Manche Dinge waren nicht mit klarem Verstand zu erklären.
„Und jetzt?", raunte er und sah, wie ein Leuchten in Leonies Augen aufkeimte.
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Nachbeben
RomanceLeonie kommt im Moment überhaupt nicht klar. Seit dem Suizid ihrer besten Freundin hat sie sich völlig in der Trauer verfangen, die ihr Leben nun bestimmt. Doch gerade, als sie denkt, sie kann nicht so weiterleben, begegnet sie dem Schicksal... Folg...