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Sie starrte ihn mit großen Augen an, während Til sagte: „Ich war noch ein Kind. Ich war acht Jahre alt. Aber ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn diese Blase dich verschluckt, in der bloß Dunkelheit herrscht, genauso wie Selbstvorwürfe. Nicht zu vergessen das Gefühl, das dir sagt, du darfst ja nie wieder jemanden so nah an dich heranlassen, dass er dich verlassen und so verletzt zurücklassen könnte. Das war es bei mir."

Sie schluckte hart, während sich in ihrem Kopf neue Fragen auftürmten. Die sie nicht stellen würde. Sie hasste es, wenn jemand versuchte, in ihre Seelenwelt zu dringen. Einzig Jessi hatte sie das erlaubt. Und na ja, Til. Aber das war nicht so ganz freiwillig gewesen. Da war sie schlicht unter dem Druck zusammengebrochen, der auf ihr gelastet hatte. Til wich ihrem Blick aus. Schon darum schwieg sie.

Sie kramte stattdessen den Toaster aus dem Schränkchen und merkte dabei, wie ihre Hände zitterten. Er konnte sie offenbar wirklich verstehen. Hatte er ihr deswegen nie Druck gemacht? War er deshalb immer so verständnisvoll, wenn sie wieder in Tränen ausbrach und dachte, sie könne das nie verkraften?

„Meine Mutter war oft traurig, an das erinnere ich mich noch. Sie hat viel geweint. Sie hat mich ihren Sonnenschein genannt. Sie hat immer gesagt, bin ich bei ihr, geht es ihr besser. Ich weiß nicht, ob das gelogen war oder ob sie sich das gewünscht hat. Ich habe sie liebgehabt, auch wenn sie oft abweisend war. Offensichtlich ging es ihr nicht gut. Sonst hätte ich nicht mit einem Lehrer vor unserer Wohnungstür gestanden, während wir auf Sozialarbeiter warteten, die mich von zuhause mitgenommen haben."

Sie biss sich auf die Unterlippe, um die Worte zurückzudrängen, die auf ihrer Zunge lagen und ihr entwischen wollten. Es war schwer. Sehr. Sie hatte eine Mini-Version ihres Freundes vor Augen, der sich genauso verlassen gefühlt hatte wie sie. Zumindest, bis Til sie vor diesem Fehler bewahrt hatte. Sie wusste mittlerweile, dass es ein Fehler gewesen wäre. Sie mochte es im Grunde zu leben.

„Sie hat mich in dem Moment verschluckt, als der Lehrer wieder zu mir zurückkam, weil er durch die Terrassentür sehen und ergründen wollte, warum meine Mutter nicht öffnete, als wir klingelten. Wieso sie mich nicht von der Schule abgeholt hat und ich auch noch vier Stunden nach Schulschluss vor dem Gebäude saß und wartete. Als sie mir gesagt haben, dass sie nicht schlief und sie nicht wiederkommen würde, da wurde es dunkel."

Jetzt hörte sich seine Stimme beträchtlich kratzig an und als sie ihn ansah, wirkte er wie der kleine Junge, dem sie gesagt hatten, seine Mama wäre tot. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, während ein Schauer über ihren Rücken jagte. Sie sollte etwas sagen, oder? Ihm begreiflich machen, dass er das Recht hatte, seine Mutter zu lieben?

„Sie haben mir erklärt, dass es nichts mit mir zu tun hatte. Dass sie krank gewesen ist. Ich hatte keine Ahnung, was Depressionen sind, Leonie. Ich wusste nur, wie meine Mutter sich verhalten hat und wenn meine Sozialarbeiter oder später meine Pflegeeltern mit mir über sie reden wollten, hab ich sie abgeblockt. Ich wollte mich auch nicht mit dieser Krankheit befassen. Genauso wenig mit den Menschen um mich herum. Für sie war kein Platz in meiner Blase. Ich wollte nie jemanden dort haben. So bin ich gut durch mein Leben gekommen. Das hab ich gedacht."

Da er sie jetzt ansah und wirkte, als wollte er das bestätigt haben, nickte sie. Ansonsten zwang sie sich, an Ort und Stelle zu bleiben. Sie wollte ihn in den Arm nehmen und ihm sagen, dass es ok war. Aber stand ihr das zu? Wieso erzählte er ihr das überhaupt? Weil sie jetzt zusammen waren? Wusste er denn nicht, dass das alles ändern konnte? Dass er sich damit unwiderruflich in ihr Herz fräste? War ihm das egal? Wieso öffnete er sich ihr?

Sie hörte in sich hinein, während er schwieg und offensichtlich abschätzen wollte, wie es ihr dabei ging, wenn er ihr davon erzählte. Es war ok. Irgendwie tat es gut, dass er wusste, wovon sie sprach, merkte sie plötzlich. Sie war wirklich nicht allein. Er verstand sie und begriff, dass der Gedanke an Jessi sie marterte. Jede einzelne Erinnerung sie in Untiefen spülen konnte, aus denen sie zwar immer besser, aber weiterhin nur schwer entkommen konnte.

„Dann rannte plötzlich diese junge Frau in mich hinein. Du. Dann warst da plötzlich du. Und ich hab so gut verstanden, was du gefühlt hast, und das hab ich mir doch immer verboten. Mit jemandem mitzufühlen bedeutet, dass man einen Schritt aus dieser Blase macht, die einen ja auch schützen soll. Aber da wurde mir bewusst, wie scheißeinsam ich im Grunde war. Das ist der Nachteil. Darum bin ich nicht gegangen. Das hab ich jetzt kapiert."

Automatisch leckte sie sich über die Unterlippe, da ihr Mund ganz trocken war. Sie war so froh, dass er geblieben war. Nicht nur, weil sie sich in ihn verliebt hatte, sondern da sie sich ihm verbunden gefühlt hatte. Sie hatte nicht sagen können warum, aber jetzt verstand sie es. Er hatte nie gefordert, dass sie mehr gab, als es ihr möglich gewesen war. Und doch waren sie offenbar schon aneinander gewachsen, ohne, dass sie es gemerkt hatten.

„Ich verstehe dich, Leonie. Das wollte ich dir sagen. Und dazu hast du noch meine Lebensgeschichte auf dem Silbertablett bekommen. Das erschreckt mich jetzt doch, weil außer meinen Pflegeeltern und meinen ehemaligen Sozialarbeiter kennt die keiner. Und von denen hab ich mich praktisch auch entfernt, sobald ich konnte. Ich bin extra ans andere Ende von Deutschland gezogen, damit ich von ihnen wegkonnte. Sie wussten zu viel. Wieso zum Teufel erzähle ich dir das alles? Ach ja. Weil ich es dir sagen kann und das erste Mal nicht das Gefühl hab, danach flüchten zu müssen."

„Aha", drang aus ihrem Mund und sie blinzelte, ehe sie schluckte, als sie hörte, wie sie sagte: „Du fragst mich jetzt aber nicht, ob ich dich heirate, oder? Ich hab dich schnell in meine Blase gelassen und mit dir geschlafen, bevor wir eine Beziehung hatten, aber so schnell bin ich nicht."

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