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Er lag auf einer Luftmatratze auf dem Wohnzimmerboden und hatte sich die Wohndecke und die Kissen von dem Sofa geschnappt, die Leonie nicht brauchte. Nach dem Vorfall mit der Pillendose war klar gewesen, dass sie definitiv noch nicht so weit war, sich von den Sachen zu trennen.

Also hatten sie den zur Hälfte gepackten Karton einfach zur Seite geschoben und die Tür zu Jessis Reich vorerst geschlossen, nachdem Leonie wieder Luft bekommen hatte. Sie hatte eine richtige Panikattacke gehabt. Vor allem, als er sich gebückt hatte, um vermeintlich ein Stück Papier unter dem Bett vorzuziehen. Es hatte sich allerdings herausgestellt, dass es ein Kuvert war, in dem in dunkler Tinte Leonies Name geschrieben stand.

Daraufhin war sie völlig zusammengebrochen und hatte so schwer geatmet, dass er sich nur beeilt hatte, sie auf seine Arme zu heben und aus dem Raum zu tragen. Er hatte wirklich gedacht, sie würde einen Arzt brauchen, so heftig hatte sie nach Luft gejapst und die Sekunden waren zu Stunden geworden, während er versucht hatte, sie zu beruhigen. Da waren ihm sein Studium und seine Vorkenntnisse im Umgang mit solchen Notfällen echt zugutegekommen.

Aber er hatte daran gezweifelt, sie wirklich wieder in einen gefassteren Gemütszustand begleiten zu können. Noch immer wurde ihm kalt, wenn er an den flatternden Puls unter seinen Fingern dachte, gepaart mit der abgrundtiefen Panik in ihrem Blick. Er hatte ihr angesehen, dass sie glaubte, sie müsse ersticken, während sich ihre Karamell-Mokka-Augen in seine gebohrt hatten und ihr Schweißbäche über die Stirn geflossen waren. Es hatte ihn so gerührt, wie peinlich ihr das war, aber er hatte nur daran denken können, dass er der Auslöser dieser Episode gewesen war.

Jetzt lauschte er ihren ruhigen Atemzügen. Sie schlief nur ein paar Meter von ihm entfernt auf dem Sofa. Sie war völlig erledigt gewesen nach der Panikattacke und trotzdem hatte sie sich dagegen gewehrt, dass er nicht in der Wohnung blieb. Stattdessen hatten sie beschlossen, dass er bei ihr im Wohnzimmer schlief, eben auf der Luftmatratze, auf der er gerade lag und versuchte, Schlaf zu finden. Aber eine unwahrscheinlich süße, verletzliche, sexy Frau lag im Prinzip neben ihm, die so verschüchtert in ihrer kurzen Schlafshorts und dem enganliegenden Shirt aufs Sofa gehuscht war. Sie hatte wirklich eine schöne Figur, seit sie wieder etwas zugenommen hatte.

‚Idiot! Komm runter! Ja, sie gefällt dir auch optisch, aber krieg dich ein! Das braucht Leonie gerade nicht!', schalt er sich und zwang sich, die Augenlider zu schließen.

Was ein Fehler war, weil sofort wieder der Ausdruck ihrer Augen in ihm aufstieg, als sie sich etwas betreten in ihr Nachtlager gelegt hatte. Er hatte so getan, als hätte er nicht bemerkt, dass die junge Frau an ihm vorbeieilte, die sein Herz und seine Hormone zum Durchdrehen brachte. Immer, nicht nur in diesem Moment. Aber natürlich hatte er sie wahrgenommen. Jede Kleinigkeit von ihr brannte sich immer tiefer in sein Gedächtnis und er wusste nicht, wie lange er die Fassade noch aufrechterhalten konnte, er sei nicht mehr als ein Freund. Denn seine Gefühle sagten ihm deutlich etwas anderes, und zwar in einer Intensität, die ihm fremd war.

„Nein", wimmerte Leonie kaum hörbar und er runzelte die Stirn.

Er hatte sich verhört. Sie war still. Nur ein Produkt seiner Fantasie. Doch er spitzte trotzdem automatisch die Ohren und registrierte, dass ihre zuvor ruhige Atemfrequenz sich verändert hatte. Sie atmete nun hektischer. Konnte das sein? Aber sie machte keinen Ton. Nur ihr Atem war schneller und sie begann jetzt, allgemein etwas unruhiger zu werden. Sie träumte bestimmt nur. Was auch immer.

„Du musst aufwachen."

‚Scheiße. Nicht eingebildet', schoss es ihm durch den Kopf und er beeilte sich, sich aus seiner Decke zu schälen und die paar Schritte Distanz zwischen ihnen zu überbrücken.

Denn jetzt wimmerte Leonie deutlicher und es wirkte, als würde sie ihr Kissen schütteln, um es aufzuwecken. Sein Herz brach in tausend Stücke, als er begriff, dass sie gerade den Moment träumte, in dem sie ihre leblose Freundin vorgefunden hatte. Als sie verstanden hatte, dass Jessi den Kampf gegen die Dämonen verloren hatte. In dem sie zugleich selbst in dieses alles verschlingende Loch gefallen war, dem sie seitdem jeden einzelnen Tag zu entkommen versuchte.

„Hey, Leonie", flüsterte er und als er ihr übers Haar strich, stellte er fest, dass es bereits schweißnass war und jetzt schluchzte sie auch auf.

Das hatte er nicht gewusst. Er hatte ab und an gesehen, dass sie schlecht geschlafen haben musste, aber von Alpträumen hatte sie ihm nichts erzählt. Sie hatte nur immer genickt und die Lippen zusammengepresst, wenn er sie darauf angesprochen hatte, dass sie wirke, als wäre sie völlig durch. Jetzt kannte er den Grund dafür. Er zog sie in seine Arme und sie wehrte sich erbittert dagegen, während ihre Stimme sich überschlug und sie bettelte, Jessi möge doch endlich die Augen öffnen. Er wollte, dass sie ihre Augenlider aufschlug. Ihn ansah, wie sie es immer tat. Er würde ihr alles von sich geben, sie bis zum Grund seiner Seele blicken lassen und nichts mehr verbergen. Wenn sie nur aufwachte.

„Es ist ok, Leonie. Wach auf für mich. Komm schon. Es ist vorbei. Du kannst nichts mehr ändern, ok?"

„Jessi! Ich hab's versucht! Mach deine scheißverfickten Augen auf! Warum? Du kannst mich nicht allein lassen! Ich hab nur dich! Niemand anders durfte in meine Blase! Nicht wirklich! Jessi! Warum machst du deine Augen nicht auf? Wieso machst du so eine Scheiße? Du bist so kalt! Dich friert! Mach deine Augen auf! Du hast gesagt, ich soll zur Uni gehen! Ich wollte dich nicht alleinlassen nach der Nacht! Aber du hast mich gedrängt zu gehen! Und jetzt wachst du einfach nicht mehr auf! Wach auf! Bitte! Bitte, Jessi!", hörte er und ihm war ganz schlecht, weil er deutlich spürte, wie ihre Arme erlahmten, die weiter heftig mit dem Kissen gekämpft hatten.

„Nein! Sie können sie nicht mitnehmen! Sie wacht wieder auf! Ich weiß es! Sie muss hierbleiben! Hier bei mir! Bitte!", vernahm er und plötzlich spielte sich alles wie ein Film vor seinen Augen ab.

Er schüttelte die Starre ab, die zwischenzeitlich von ihm Besitz ergriffen hatte, und rüttelte sie grob. Sie musste endlich aus dem Labyrinth entkommen können, in das sie ihr Hirn geschickt hatte, während er sie schon fast anbrüllte, sie solle ihre Augen öffnen. So wie sie es mit Jessi gemacht hatte, ging ihm auf und er konnte nicht verhindern, dass Tränen in ihm aufstiegen. Er heulte nicht leicht, aber ihre Schluchzer marterten ihn zu sehr. Vor Augen zu haben, wie sehr sie gelitten hatte, als sie um die leblose Hülle ihrer Freundin gekämpft hatte.

„Bitte, Leonie. Du musst jetzt aufwachen. Es ist vorbei", bat er sie wieder inständig und erstarrte, als sie ihre Augen aufschlug und ihm der Ausdruck entgegenschlug, der sie vor ein paar Wochen in seine Arme getrieben hatte.

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NachbebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt