Sie merkte, wie sich ein Strahlen in ihr ausbreitete. Sie hatte sich etwas Besonderes ausgedacht. Und sie hatte gewollt, dass Til bei ihr war in diesem Moment. Denn ohne ihn hätte sie es vielleicht nicht geschafft, würde nicht da stehen, wo sie heute stand. Auf der Brücke, auf der irgendwie alles begonnen hatte.
Auf der ihr Leben nochmal auf Reset gesetzt wurde, weil sie in ihn hineingelaufen war. So empfand sie das mittlerweile. An diesem Abend, an dem sie glaubte, der Dunkelheit nicht mehr standhalten zu können, hatte ihr das Schicksal ein Licht geschenkt. Sie hatte sich der Finsternis erst monatelang freiwillig ausgesetzt und nach Jessis Tod hatte diese sie verschlingen wollen, aber sie hatte dem Einhalt gebieten können. Dank Til. Und genau deswegen fühlte es sich so verdammt richtig an, dass er jetzt neben ihr stand und sie fragend ansah.
Sie nahm ihm den Brief aus der Hand und merkte, wie er die Stirn runzelte, als sie anfing, ihn zu falten. Mit jeder ihrer Handbewegungen wurde ihr nochmal leichter ums Herz. Seit sie die Zeilen gelesen hatte, sah sie so klar. Sie würde noch brauchen, um sich zu verzeihen, dass sie nicht früher eingegriffen hatte und bis sie sich die Frage beantworten konnte, ob es einen Unterschied gemacht hätte. Vielleicht hätte es das. Vielleicht wäre Jessi dann jetzt hier. Aber womöglich wäre das Ergebnis ein ähnliches gewesen. Das würde sie niemals herausfinden. Und irgendwie machte ihr der Gedanke nicht mehr so zu schaffen, wie noch vor ein paar Wochen.
„Was machst du da?"
„Erkennst du es nicht?"
„Nein. Wieso faltest du den Brief?"
„Weil wir ihn zusammen auf die Reise schicken."
„Auf die Reise. Aha. Aber das ist kein Flieger..."
Jetzt musste sie grinsen und schüttelte den Kopf, ehe sie ihren Freund ansah und sagte: „Du hast ein kluges Köpfchen. Wir stehen auf einer Brücke. Darunter ist...?"
„Wasser. Du ... du faltest ein Schiffchen!"
„Wusste ich doch, dass du schlau bist."
„Haha. Ich habe heute Prüfungen geschrieben. Da hab ich praktisch alle Schlauheit aufs Blatt losgelassen. Hast du einen Clown gefrühstückt, nachdem ich weg war? Ich hab dich selten so vergnügt gesehen."
„Erschreckt dich das?"
„Nee, freut mich."
„Gut. So. Fertig. Komm mit, du Schlauberger."
„Du bist ganz schön frech."
Sie kicherte und erwiderte: „Das hat Jessi auch oft gesagt."
Sie bemerkte, wie Til kurz zusammenzuckte und ihr in die Augen sah. Nein, zum ersten Mal hatte eine solche Aussage nicht wehgetan. Es war einfach nur Fakt. Sie merkte, wie sich ein Strahlen auf ihrem Gesicht breitmachte und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihrem Freund einen Kuss auf die Lippen zu drücken. Sofort entspannte er sich und ein Lächeln schlich sich auch auf seine Gesichtszüge. Daran würden sie arbeiten müssen: Er sollte keine Angst mehr haben, dass sie zusammenbrach, wenn sie von Jessi sprachen.
Sie griff, mit der freien Hand nach seiner und verschränkte ihre Finger mit seinen. Sie fühlten sich warm an und ein leichtes Kribbeln breitete sich weiterhin da aus, wo sie sich berührten. Das hatte ihre Freundin gemeint und jetzt konnte sie das auch nachvollziehen. Sie erinnerte sich, dass sie an jenem Abend an dem Anne Völkers starb, Jessi aufmuntern wollte. Weil ihre große Liebe nach Amerika gezogen war. Darum die Kerle, deswegen die Party. Daher der Unfall.
Sie schob die finsteren Gedanken wieder weg. Es war vorbei. Sie konnte nichts mehr an den Entscheidungen in der Vergangenheit ändern. Aber sie konnte die Chance nutzen, die sich ihr nun bot. Die Möglichkeit, sich von dem Ballast zu lösen, der ihr so lange auf den Schultern gelegen und der sie erdrückt hatte. Genauso wie Jessi. Nur anders. Sie hatte Glück gehabt. Sie war im rechten Augenblick aufgefangen worden, als sie sich im freien Fall befunden hatte.
Wieder schwirrte ihr Blick zu Til und sie unterdrückte ein Kopfschütteln. Zwar war sie auf ihren Allerwertesten gefallen, aber er war in ihrem Schoß gelandet. Oder so ähnlich. Sie verließen die Brücke und hangelten sich an ihrer Seite die Böschung hinunter. Dort, wo das Wasser des Flusses am Land leckte, holte sie die mitgebrachten Utensilien aus ihrer Tasche: Eine handelsübliche Geburtstagskerze und ein Feuerzeug.
„Du willst den Brief verbrennen?", fragte Til verwirrt und sie zuckte mit den Schultern.
„Die Worte haben sich ganz tief in mein Herz gegraben, ich brauche das Blatt nicht. Aber du liegst falsch: Ich will nicht den Brief verbrennen, auch wenn er das zwangsläufig tun wird, falls sich das Papier nicht vorher vollsaugt und das Schiff untergeht."
„Aha. Was ist dann der Sinn der Kerze?"
„Ich sende Jessi ein Zeichen."
„Ein Zeichen?"
„Ja. Ich schicke ihr ein Signal, - egal, wo sie ist - dass das Licht leuchtet. Heller als die Jahre zuvor. Es brennt wieder, es glimmt nicht nur. Es brennt jetzt wieder lichterloh und stark."
Sie zündete die Kerze an, träufelte etwas Wachs auf das Papier mit den dichtbeschriebenen, tränenverschmierten Zeilen und machte die kurze Geburtstagskerze darauf fest. Dann sah sie Til an, der neben ihr in die Hocke gegangen war und sie anlächelte.
„Das ist eine wunderschöne Idee, Leonie."
„Ja. Ich glaube, es freut sie, zu wissen, dass ich nicht in der Dunkelheit geblieben bin."
„Mit Sicherheit."
Sie nickte, weil sie nun doch merkte, wie sich ihre Stimme belegte und ein Kloß sich in ihrer Kehle sammelte. Kurz zögerte sie und fragte sich, ob sie es nicht übereilte. Aber dann sah sie in Tils wunderschöne Augen, der sie in den letzten Monaten so oft geduldig betrachtet hatte, und setzte das Schiff ins Wasser, ehe sie ihm einen sanften Schubs gab. Normalerweise hätte der Wind die Kerze sicher gleich ausgepustet. Aber sie hatte welche gekauft, die sich nicht auspusten ließen. Sie freute sich schon, die restlichen auf Tils Geburtstagskuchen zu drapieren und ihn dabei zu beobachten, wie er versuchte, sie auszublasen.
Sie sah im Augenwinkel, wie Til aufstand und tat es ihm gleich. Kurz darauf spürte sie seine Arme um ihre Taille, seine Wärme im Rücken und seinen Atem an ihrem Hals, während sie verfolgten, wie Jessis Zeilen von der Strömung erfasst wurden und flussabwärts trieben. Die Flamme der Kerze war kaum mehr zu sehen, weil das Schiffchen schon so weit weg war. Doch sie wusste ja, dass sie brannte. Für Jessi.
Nachdem sie das Schiff nicht länger erkennen konnte, flüsterte Til: „Und wie geht es jetzt weiter, Leonie?"
„Keine Ahnung. Aber ich glaube, wir sollten unsere Blase verlassen. Ich brauche dringend eine Freundin, weißt du?"
„Ach ja, du brauchst eine Freundin? Find ich gut. Aber so plötzlich?"
„Na, könnte doch sein, dass ich irgendwann heirate und Kinder bekomme oder so. Wer weiß schon, was das Leben so bringt. Mit dir hatte ich auch nicht gerechnet und trotzdem bist du da."
„Das bin ich."
„Ja. Zum Glück hat das Nachbeben dich ans Licht befördert", flüsterte sie und drehte sich in seinen Armen, um den Kopf auf seine Schulter zu legen.
„Keine Angst mehr vor der Zukunft und den Dingen, die dein Bauch dir vorschlägt?"
„Doch. Aber das ist ok. Gehört wohl zum Leben", entschied sie und merkte, wie er sie tiefer in seine Arme zog.
Sie schmiegte sich hinein und erkannte, dass es gut war. Dem alles verschlingendem Beben war eine Reise in ein unbekanntes, lichtdurchflutetes Land gefolgt. Da würde sie bleiben. Bis das nächste Erdbeben kam, doch diesmal war sie gewappnet. Mit Til und einer Blase, in der nicht nur die Luft frisch roch, sondern in die zudem viel Licht fiel. Außerdem war da noch Platz für andere.
„Ciao, Jessi. Bis wir uns wiedersehen. Nur noch nicht so schnell, ok? Erst werde ich mein Leben genießen", wisperte sie, nachdem sie sich zwischen Tils Beinen auf dem Brückenpfeiler niedergelassen hatte.
Die Sonne tauchte das Wasser des Flusses in wunderschöne Gold- und Gelbtöne des Sonnenunterganges, während sie die Erwiderung ihres Freundes hörte: „Keine Angst. Ich pass gut auf sie auf."
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Nachbeben
RomanceLeonie kommt im Moment überhaupt nicht klar. Seit dem Suizid ihrer besten Freundin hat sie sich völlig in der Trauer verfangen, die ihr Leben nun bestimmt. Doch gerade, als sie denkt, sie kann nicht so weiterleben, begegnet sie dem Schicksal... Folg...