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Verdutzt und völlig überfahren sah er auf den Fuffi in seiner Hand und schüttelte den Kopf. Das war definitiv schiefgelaufen, dachte er und zuckte zusammen, als hinter der Wohnungstür erst ein „Aaaaaaaahhhh" erklang und dann offenbar Dinge durch die Gegend flogen.

Zumindest polterte es, als würde Leonie ihre Wohnung zu Hackschnitzeln verarbeiten. Also klopfte er an die Tür und rief ihren Namen, damit sie ihm wieder öffnete. Er hatte die leise Ahnung, dass diese Wut im Grunde gegen sich selbst gerichtet war und er hatte echt ein ungutes Gefühl dabei.

Das bestätigte sich, als der Krach plötzlich verstummte, ein Plumpsen zu vernehmen war und dann ihr lautes Schluchzen zu ihm drang. Jedes einzelne schnitt tief in sein Herz und er klopfte noch fester gegen die Tür. Er wollte da rein.

„Leonie! Verdammt! Mach diese Scheißtür auf!", fluchte er, als alles Klopfen und Klingeln nichts brachte, doch plötzlich Totenstille herrschte.

„He, junger Mann, wat machen Se denn hier? Sind Se rausgeworfen worden? Dat is doch'n deutliches Zeichen. Nu gehen Se schon nach Hause und veranstalten Se hier nich' so'n Tamtam. Dat Mädchen hat 'ne schwere Zeit hinter sich, dat brauch' nich' noch 'nen eifersüchtigen Freund, ok?", hörte er plötzlich neben sich.

„Ich bin nur ein Kumpel. Ich wollte zu ihr, gerade weil es ihr nicht gut geht", rechtfertigte er sich automatisch an die ältere Dame gewandt, die aus der Nebenwohnung herausschaute.

„Dat is mir aufgefall'n. Wollt grad die Polente ruf'n, da hab ich Se auch noch an de Tür poltern hören. Is nich gut, dat des Mädel so ausflippt und keiner sich kümmert. 'N paar hams versucht. Aber dat Mädel hat immer alle weggeschickt. Brauchen Se Unterstützung? Dann ruf ich die Bull'n."

„Nein, äh, danke. Ich bekomm das hin", sagte er und als die Nachbarin nickte und wieder in ihrer Wohnung verschwand, legte er das Ohr an die Tür und lauschte konzentriert.

‚Wirklich kein Ton. Scheiße', dachte er und bemerkte, wie seine Hände feucht wurden.

Immerhin war ihr „schwacher Moment" noch nicht lange her und er kannte auch den Unterschied zwischen dieser tiefen Trauer und Depressionen nicht. Außerdem hatte sie unfassbar aufgewühlt gewirkt. Also startete er nochmals einen Versuch: Wie ein Bekloppter hämmerte er gegen die Tür und klingelte Sturm. Sie öffnete nicht. Aber er musste da rein!

Gerade als er überlegte, ob er die Tür auftreten sollte, fiel ihm ein, dass er ihren Wohnungsschlüssel noch in der Jeanstasche hatte. Er hatte ganz vergessen, ihn wieder an den Haken zu hängen. Von da hatte er ihn sich genommen, nachdem er beschlossen hatte, einkaufen zu gehen. Hastig zog er ihn aus der Tasche, sammelte seine sieben Sachen ein, schloss sich auf und lugte vorsichtig hinein.

Er ließ sein Zeug neben der Tür fallen und bemerkte, dass sie ordentlich gewütet hatte. Das Chaos hatte neue Ausmaße: Die Papiere lagen verstreut herum, die Schale mit Krimskrams lag zerbrochen am Boden, genauso wie diverse Bilderrahmen. Er schluckte. Das war definitiv Wut in ihrer reinsten Form gewesen.

„Leonie?"

Er lauschte, kein Ton. Er konnte sie nirgends entdecken, als er die Zimmer ablief. Sein Herz raste. Zum Teufel, in Luft aufgelöst konnte sie sich doch nicht haben! Er lief zurück in den Flur, wo das Chaos am größten war. Plötzlich sah er sie regungslos seitlich des Sideboards kauern. Sie hielt einen Fotorahmen in der Hand und starrte ihn an. Als er sie musterte, sah er das Blut neben ihr. Fuck! Was zum Henker hatte sie getan! Das ... das durfte nicht wahr sein!

Er lief zu ihr. Verfolgte die Spur des Blutes mit seinem Blick. Es tropfte aus ihrer Handfläche! Ihm fiel eine Gerölllawine vom Herzen und er fragte sich, warum Leonie nicht reagierte. Er war nicht gerade leise gewesen. Plötzlich hob sie ihre Augen zu seinem Gesicht. Sie hatte ihn wahrgenommen und auch wieder nicht, erkannte er, als sie durch ihn hindurchsah.

„Leonie", sagte er und ging vor ihr in die Hocke.

„Ich hab es kaputt gemacht", flüsterte sie kaum vernehmbar und sein Blick wanderte zu dem Bild in ihrer Hand.

Das Glas des Rahmens war zersprungen und jetzt wusste er, warum sie blutete. Sie hatte sich an einer der verkanteten Scherben geschnitten. Er sah eine lachende Leonie darauf und das daneben musste Jessi sein. Auch sie lächelte, allerdings wirkte es ein bisschen gezwungen und nicht so herzlich wie bei Leo. Ihre Augen fixierten ihn nun, als wolle sie sich erden, indem sie ihn ansah. Aus einem Impuls heraus strich er ihr über die Wangen, über die nun wieder Tränen liefen.

„Nur der Rahmen ist hin. Den kann man ersetzen. Das Bild ist heile."

„Ich werde manchmal so wütend. Und dann..."

Sie schien in Schockstarre zu sein, denn alles lief wie in Zeitlupe ab. Wie in Trance starrte sie wieder auf das Bild.

„Ich wollte das Foto nicht kaputt machen. Ich bin drangekommen. Aus Versehen."

„Ist ok. Wir kaufen einen neuen Rahmen, ok?"

„Wir? Wieso? Es ist nicht gut, wenn man sich mit mir abgibt", wisperte sie und klang dabei so mutlos und verloren, dass es ihm die Luft abdrückte.

„Das wird sich noch zeigen, in Ordnung? Warum ist einfach: Weil ich nicht so tun kann, als hätte es den gestrigen Abend nicht gegeben. Gib mir das Bild, wir legen es zur Seite und versorgen deine Schnittwunde, ok?"

„Schnittwunde? Oh. Ich blute."

„Ja. Du blutest. Komm. Wir machen das sauber, ja? Wir gucken mal, ob die Wunde tief ist, die blutet nämlich ganz schön", sagte er sanft und bemerkte, wie sich ihre Finger kurz noch fester um das Bild schlossen, ehe sie nachgab und es ihm überließ.

Da ihm die Geschichte zu langsam ging, hob er sie kurzerhand auf seine Arme und trug sie ins Badezimmer. Dort setzte er sie aufs geschlossene Klo und bemerkte, wie ihre Karamell-Augen ihn bei jeder Bewegung beobachteten. Sie wirkte fast fasziniert, während er ihre verletzte Hand in seine nahm und dann mit dem Kopf schüttelte. Er sah gar nichts. Da war wirklich zu viel Blut. Er griff nach einem Handtuch, machte es ein bisschen feucht und tupfte die Wunde ab.

„Bist du Arzt?"

„Was?"

„Ob du Arzt bist?"

„Nein, ich bin kein Arzt. Sehe ich so alt aus?", scherzte er und sie sah ihn ernst an und schüttelte den Kopf.

Doch sie sagte nichts weiter, also erklärte er: „Ich studiere Sportwissenschaften. Da bekommt man auch ein bisschen Einblick in die Sportmedizin, aber es lässt sich natürlich nicht vergleichen mit einem richtigen Medizinstudium. Zum Einschätzen von Wunden reicht es."

„Du kannst nicht bleiben", sagte sie plötzlich und er schaute sie fassungslos an.

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NachbebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt