Sie bemerkte, wie er sie irritiert anstarrte, ehe er sich offenbar zusammenriss und erwiderte: „Ich habe mich nie und zu keiner Zeit genötigt gefühlt, Leonie."
„Ok."
„Es muss dir auch nicht peinlich sein, ok? Du machst eine schwere Phase durch und so ist es eben manchmal im Leben. Das ist nichts, wofür du dich schämen müsstest. Immerhin war sie dir so wichtig, dass ihr euch das gleiche Tattoo stechen lassen habt."
Wieder durchzuckte sie ein Stich, aber sie nickte nur und versuchte, die Fassung zu wahren. Diese Situation war echt kaum auszuhalten für sie. Sie schämte sich dafür, wie sie gerade lebte, sie vermisste Jessi so sehr und doch war es schön, dass jemand da war. Dass er noch da war. Obwohl sie sich mehrmals bis auf die Knochen blamiert und ihm vorgeheult hatte. Und dann hatte er zudem erkannt, was sie gestern vorgehabt hatte.
„Da fällt mir ein, dein Handy hat ein paar Mal gepiept. Ich hab es da hinten hingelegt", sagte er und sie nickte nur.
„Ok."
„Willst du nicht nachsehen?"
„Nein."
„Warum?"
„Ich weiß, wer es ist."
„Aha. Aber es hat wirklich öfter gepiept, es könnte etwas Wichtiges sein."
Nun hob sie den Kopf doch und erwiderte: „Es geht nur um eine Unterschrift, die ich für meine Eltern leisten soll. Nichts Relevantes also."
„Das klingt aber wichtig. Außerdem: Wenn du nicht zurückschreibst, machen sie sich vielleicht Sorgen?"
Jetzt entwich ihrem Mund tatsächlich ein freudloses Lachen und sie merkte, wie er sie irritiert ansah, also erklärte sie: „Meine Eltern haben sich noch nie gesorgt um mich. Sie sorgen sich eher um ihren Ruf oder ihr Vermögen. Für Letzteres soll ich eine Unterschrift leisten. Das ist mir im Moment aber echt scheißegal."
„Sie machen sich keine Sorgen um dich? Auch gerade nicht?", fragte er und sie las Fassungslosigkeit in seinem Blick.
„Nein, auch gerade nicht."
„Aber ... äh ... es geht dir im Moment nicht gut, Leonie. Wieso sorgen sie sich nicht, sie sind deine Eltern..."
„Und ich bin ein verkackter Unfall. Der nicht hätte passieren sollen, weil es die Figur meiner Mutter ruiniert hat. Sie hat es zu spät gemerkt, um noch abzutreiben. Können wir das Thema jetzt bitte lassen?", erwiderte sie gereizt und sah, wie er blass wurde.
„Außerdem wissen sie nichts von der Sache mit Jessi."
„Aber wieso?", fragte er und sie bemerkte, dass er das nicht begriff.
‚Er hat also andere Eltern als ich. Na ja, das ist nicht schwer', dachte sie und sagte: „Weil sie Jessi nicht mochten. Ich glaube, ich habe mich damals nur mit ihr angefreundet, weil ich auf die anderen Schickimicki-Kinder keinen Bock hatte."
„Inwiefern?"
Sie wollte nicht darüber reden. Es tat weh. Aber sie registrierte das ehrliche Interesse in seinem Blick. Außerdem hatte er bis jetzt alles ertragen und er schien sich aufrichtig Sorgen um sie zu machen. Also dachte sie an den Tag, an dem sie Jessi erstmals nach Hause mitgenommen hatte und musste lächeln.
Sie bemerkte, dass seine Augen großgeworden waren, ging aber darüber hinweg und erzählte: „Meine Eltern umgeben sich nur mit Menschen, die ihnen oder ihrer Karriere nützen könnten. Sie waren etwas geschockt, als ich mit Jessi aufkreuzte, von der man wusste, dass ihre Eltern Harzer sind. Vater Frührentner und Mutter hatte ein kleines Problem, Jobs zu behalten. Du kannst dir vorstellen, dass sie nicht begeistert waren, dass ihre Tochter sich mit - ich zitiere - solchem Abschaum abgibt. Aber ich entsprach ja ohnehin nie irgendwann irgendjemandes Erwartungen. Also passte das. Ich hab nur Jessis Erwartungen erfüllt. Vielleicht hatte sie keine. Ich weiß nicht."
Sie sah ihn lange an und merkte, dass er nachdenklich wirkte, ehe sie anfügte: „So ist es eben. Ich hab akzeptiert, dass sich die Sorge meiner Eltern um mich nur darauf erstreckt, mein Konto monatlich aufzufüllen. Damit sie sich wenigstens nicht das nachsagen lassen müssen und ein paar Steuern sparen können. Ach, und darum, dass ich eine berühmte prestigeträchtige Journalistin werde, am besten bei einem Wirtschaftsmagazin. Da wäre ich zumindest nützlich. Das wars dann auch. Ich vermisse sie nicht. Nicht mehr. Schon lange nicht mehr."
„Ok, aber warum sehen keine Freunde nach dir?"
„Da sind sonst keine. Jessi war mir genug. Es gibt Bekannte, doch die lagen mir immer in den Ohren, dass ich mich nicht so hängen lassen soll und dass das Ende sowieso vorauszusehen war. Ich hätte keine Schuld daran. Als ich ausflippte und ihnen die Meinung sagte, meinten sie, ich solle mich frühestens melden, wenn ich wieder richtig ticke. Ist auch egal. Ohne mich sind andere ohnehin besser dran."
„Wieso sagst du sowas Dummes? Bis gerade eben hätte ich dich nicht für dumm gehalten, aber..."
Jetzt war es endgültig um ihre Beherrschung geschehen und sie rief: „Was weißt du denn schon? Denkst du, du kennst mich, nur weil ich an deiner Schulter geheult hab und dir ein paar Begebenheiten aus meinem Leben erzählt hab?"
„Nein, aber..."
„Nichts aber! Ich hatte EINE Freundin und die hat sich das Leben genommen, weil..."
„Sie krank war!"
„Weil ICH sie nicht retten konnte, verdammt!"
Sie schob den Teller mit der noch zu essenden Brötchenhälfte heftig von sich, stand auf und lief in den Flur. Irgendwo hier musste ihr Portemonnaie sein. Sie würde ihm jetzt Kohle fürs Essen geben und dann die Sache beenden. War besser. Sie brauchte niemanden. In ihrer Blase war ohnehin nicht genug Platz für andere. Auch, wenn ihr plötzlich die Vorstellung, allein in der Wohnung zu sein, noch weniger gefiel.
Sie hörte, dass er ihr gefolgt war, und ignorierte seine Gesprächsversuche. Sie wollte doch allein sein, denn jeden Moment würde sie losheulen und diese Blöße würde sie sich vor ihm nicht nochmal geben. Sie würde das abtun, als wundersame Begegnung und damit hatte sich das Thema erledigt.
„Leonie, so war das nicht..."
„Fick dich, Til! Du bist genauso wie die andern, ok? Heuchelst Interesse, lässt mich heulen - wobei ich gestern zum ersten Mal geflennt hab - und jetzt denkst du mich zu kennen. Du hast keine Ahnung, welche Art von Mensch ich bin, urteilst aber über mich..."
„Offenbar bist du gerade ein sehr wütender Mensch. Ich würde trotzdem gerne..."
Sie fand ihre Geldbörse, entnahm ihr einen Schein, drückte ihn ihm in die Hand und schob ihn wortlos zur Tür. Sie nahm seine Schuhe, seinen Mantel und die Tüte, die darauf gelegen hatte, warf alles hinaus und drängte Til ebenfalls vor die Wohnung. Dann knallte sie mit einem Rumsen die Tür ins Schloss.
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Nachbeben
RomanceLeonie kommt im Moment überhaupt nicht klar. Seit dem Suizid ihrer besten Freundin hat sie sich völlig in der Trauer verfangen, die ihr Leben nun bestimmt. Doch gerade, als sie denkt, sie kann nicht so weiterleben, begegnet sie dem Schicksal... Folg...