- 14 -

36 8 13
                                    

„Ich konnte sie nicht retten."

„Nein, das konntest du nicht", flüsterte Til und erneut zerbrach sie in abertausende Scherben.

Wie immer, wenn sie von diesem Traum heimgesucht wurde. Nur diesmal hatte er anders geendet. Tils Stimme war irgendwann zu ihr durchgedrungen. Bevor Jessi in ihrem Sarg die Augen aufschlug, direkt in ihre sah und sie anfunkelte, um ihr zu sagen, dass sie nicht genug getan hatte. So endete der Alptraum für gewöhnlich. Nicht heute Nacht. Ihre Arme brannten trotzdem wie an jenem Tag, doch diesmal füllte sie nicht die gleiche Kälte, die sie sonst empfand.

Ihr war kalt und sie hatte auch Mühe, die Schatten der Vergangenheit abzuschütteln, die noch am Rande ihres Bewusstseins lauerten, aber es war nicht so ... allumfassend. Sie spürte die Wärme, die von Tils Körper ausging und so gegen die Kälte ankämpfte, die in ihrem Innersten war. Das fühlte sich gut an. Besser als es wahrscheinlich sollte. Immerhin waren sie nur Freunde. Trotzdem pochte ihr Herz heftig in ihrer Brust gegen den Eisklumpen an, der sonst nach einem Traum in ihr wohnte.

Sanft strich er die Tropfen von ihren Wangen und sie konnte den Blick nicht von seinen Augen abwenden, in denen auch Tränen glitzerten. Wegen ihr? Oder Jessi? Warum? Was machte ihn so betroffen? Es faszinierte sie jedenfalls und sie merkte, dass die Tatsache, dass er offenbar mit ihr litt, ebenfalls dafür sorgte, dass die Schwere in ihrer Brust etwas nachließ. Mit jedem Atemzug ein bisschen mehr verdrängte seine Gegenwart die Dämonen, die nach ihr greifen wollten und die schon viel an Macht verloren hatten. Nur, weil er sich entschieden hatte, sich neben sie in ihre Blase zu drängen.

„Ich hab es versucht. Es hat nicht gereicht", sagte sie trotzdem und er nickte, während er sie tiefer in seine Arme zog und seine Stirn an ihre legte.

„Ich weiß, Leonie. Du hast hart gekämpft. Ich hätte mir gewünscht, dass du Erfolg hast."

„Auch, wenn wir uns dann nie begegnet wären?"

„Ja. Es tut mir weh. Ich wusste nicht, dass du das immer wieder träumst."

„Ja. Danke fürs Wecken", flüsterte sie und stellte jäh fest, dass der typische Til-Geruch sie einhüllte, den sie sonst zu verdrängen versuchte.

Weil er echt scheißgut roch. Sie hatte ein Problem. Denn sie wusste nicht, wie oft sie sich noch einreden konnte, dass sie nicht mehr als freundschaftliche Gefühle für ihn hatte. Sie wusste es doch längst besser. Die Gedanken an Jessi, die sie sonst sofort nach dem Aufwachen überfallen hatten, hatte er genauso verdrängt, wie die Leere am Abend, dass sie wieder einen Tag ohne ihre Freundin verbringen musste. Stattdessen dachte sie an ihn. Morgens daran, ob er schon wach war und sich mit seinen Mitbewohnern herumärgerte und abends sann sie darüber nach, was sie an dem Tag gemacht hatten, wie wohl sie sich in seiner Nähe fühlte.

Das hatte bisher nur Jessi zustande gebracht. Dass sie in der Gegenwart einer anderen Person nicht das Gefühl gehabt hatte, irgendwelchen Ansprüchen genügen und irgendwas leisten zu müssen. Wie bei ihrer Freundin war offenbar nur ihre Anwesenheit genug und alles willkommen, was von ihr kam. Jessi hatte ebenso wenig gefordert wie Til. Er gab sich auch mit dem zufrieden, was sie geben konnte.

„Obwohl ich dich wahrscheinlich vermissen würde", fügte er an und riss sie damit wieder in die Gegenwart.

Jetzt mischte sich sein Atem mit ihrem, weil er ihr so verdammt nah war. Sie sollte sich von ihm lösen und ihm sagen, dass es schon ok sei. Denn das war es. Überraschenderweise. Sie fühlte sich wirklich nicht so dermaßen scheiße wie sonst.

„Hm. Du könntest mich gar nicht vermissen, weil du mich nicht kennen würdest und was der Mensch nicht kennt, kann er auch nicht vermissen. Er weiß ja nicht, was er verpasst. Obwohl ich in Bezug auf mich jetzt nicht unbedingt von verpassen sprechen würde. Also zumindest im positiven Sinne."

„Wieder daneben", raunte er und sie schluckte.

In ihrem Bauch zog sich irgendwas zusammen, weil seine Stimme etwas rau klang. Sie sollte jetzt wirklich die Reißleine ziehen und sich von ihm lösen. Aber es fühlte sich gut an. In seinen Armen zu liegen und zu spüren, wie sein Atem über ihre Wange strich. Zu sehen, wie er den Kummer in seinen Augen bekämpfte und zu hören, was er sagte. Sie wusste nicht genau, was er mit seiner letzten Aussage gemeint hatte. Das Denken fiel ihr zunehmend schwerer. Wie konnte das sein? Er hielt sie nur fest und schaute sie an. Plötzlich erkannte sie, dass sich da, wo sein Körper sich an ihren drückte, kleine Brandherde auftaten. Das war nicht gut. Oder doch?

Die Kälte aus ihrem Innersten machte der Wärme Platz. Wie lange war es her, dass sie so gefühlt hatte? Hatte sie jemals so empfunden? Das fragte sie sich, während sich die Schwüle in ihrem Körper ausbreitete und gleichzeitig flutete sie Energie. Ihr Herz pochte heftiger gegen die Rippen und sie spürte, wie der Eispanzer ihrer Brust noch mehr Risse bekam. Aber er wollte doch nur Freundschaft! Wenn sie dem nachgab, würde sie ihn dann nicht als Freund verlieren?

Er kann nicht bleiben, sonst mach ich wieder alles kaputt. Er ist zu wertvoll geworden', dachte sie und zog ihn automatisch näher.

Nur Millimeter trennten ihre Lippen und sie starrte ihn an, während sich in ihrem Kopf die Gedanken überschlugen. Was war das Richtige? Wieso wusste sie nie, was richtig war? Wenn sie jetzt ihr Glück versuchte und er stieß sie zurück, würde ihre Freundschaft Schaden nehmen. Genauso würde ihre Beziehung darunter leiden, falls sich mehr daraus entwickelte und sie es versiebte. Sie war echt beschissen in so etwas und oft gelang es Paaren nicht, wieder zum Ursprung zurückzukehren. Aber sie fühlte sich so lebendig wie schon lange nicht mehr.

Bevor sie wusste, was sie tat, überbrückte sie die Distanz und drückte ihren Mund auf seinen. Doch dann schreckte sie zurück, als er kurz erstarrte. Scheiße. Scheiße! Nicht gut! Sie suchte krampfhaft nach Worten, wie sie das erklären sollte. Erstaunt riss sie die Augen auf und forschte in seinem Blick, als er sie jetzt endgültig zu sich zog und sie küsste. Augenblicklich entwickelten sich die Feuerherde zu einem Flächenbrand.

‚So lang her', dachte sie noch, ehe ihr die Augen zufielen und sie sich der Lebendigkeit fügte, die sie durchströmte, als Til sie gierig küsste.

Sie hatte fast vergessen, wie gut sich das anfühlte.

*******************************

NachbebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt