Hier war es ein bisschen frischer als im Rest der Stadt. Sie schloss die Augen und nahm sich Zeit, die leichte Brise um ihren Körper zu fühlen. Wie sie mit ihrem Haar spielte und sie umfing, zart an ihrem Shirt zerrte. Sie atmete tief ein und roch die Nähe des Wassers, gepaart mit den Gerüchen, die in einer Stadt wie dieser vorherrschten. Kinderlachen drang an ihre Ohren, von dem nahegelegenen Spielplatz und sie wusste, wenn sie die Augen öffnete, würde sie die unweit spielenden Kids beobachten können.
Sie war hier oft mit Jessi spazieren gegangen. Darum hatte es sie hierher gezogen an dem Abend, an dem sie gedacht hatte, die Dunkelheit würde sie verschlucken. In diesen Momenten, in denen sie geglaubt hatte, sie könne nie wieder leben oder lachen. Noch immer fehlte ihr Jessi. Weiterhin machte sie sich Vorwürfe. Aber sie waren nicht mehr so raumfordernd. Sie wusste, es würde Jahre dauern, bis sie sich verzeihen konnte, was passiert war, seit Anne Völkers in ihr Leben getreten war - und wie sie und ihr ungeborenes Baby ihr Leben gelassen hatten.
Ihre Hände fingen aufs Neue an zu zittern, als die letzten Momente der jungen Frau wie ein Film vor ihrem inneren Auge abliefen. Ihr Therapeut hatte gesagt, dass sie alles probiert hatten, um Anne Völkers zu helfen, doch leider gescheitert waren. Aber sie hatten alle versucht, ihr Unrecht gutzumachen. Das befreite sie jedoch nur halb von der Schuld, dachte sie und öffnete die Augen. Sie ließ den Blick zum Spielplatz wandern und entdeckte ein kleines Mädchen, dass die Hände in die Hüfte presste und es erprobte, sich zu behaupten.
Es musste etwa 4 sein, was sie trotz der Entfernung so erahnen konnte. So alt wäre Anne Völkers Kind jetzt auch. Sie beobachtete, wie eine Blondine - vermutlich etwas älter als sie - neben dem Mädchen in die Hocke ging und ihm durch die Haare strich, um das scheinbar aufgebrachte Kind zu beruhigen, und erneut durchzuckte sie ein Stich. Das hatten sie Anne Völkers genommen und es vor Augen geführt zu bekommen, war schwer. Darum hatte sie Jessi immer mehr gemieden. Mit dieser Schuld würde sie auch leben müssen. Dass sie sich von ihrer Freundin abgekapselt hatte. Nur, um sich nicht damit befassen zu müssen, was sie getan hatten.
Sie hatte Jessi mit ihren Dämonen alleingelassen. Sie hatte gespürt, dass es ihr nicht gut gegangen war, aber sie hatte nicht gewusst, wie sie ihrer Freundin helfen konnte. Durch Jessi hatte sie sich noch schuldiger gefühlt, weil sie hätte am Steuer sitzen müssen. Dann wäre ihre beste Freundin nicht immer wieder in Tränen ausgebrochen und hätte sich als Mörderin bezeichnet. Sie hatte so schwer mit sich gekämpft und sie hatte es als Phase abgetan. Sie hatte die Augen wissentlich davor verschlossen, was im Grunde offensichtlich gewesen war.
Das war ihr jetzt bewusst. Sie war echt eine beschissene Freundin gewesen. Bis zu dem Moment, bis sie begriffen hatte, dass Jessi nicht einfach nur traurig war und sich Vorwürfe machte. Bis dahin, als sie gemerkt hatte, dass ihre engste Vertraute Gefahr lief, an dieser Trauer und den Schuldgefühlen zu zerbrechen. Ab da hatte sie alle Energie in ihre Rettung gesteckt - wie bei Anne Völkers damals. Doch wie an diesem Abend war sie gescheitert.
Ihr Blick senkte sich auf die wenigen Zeilen, die Jessi ihr hinterlassen hatte. Die sie heute, nachdem sie heulend im Zimmer ihrer Freundin zusammengebrochen war, mit zittrigen Fingern aus dem Umschlag gefischt und gelesen hatte. Sie schloss die Augenlider erneut und Jessis Gesicht baute sich in ihrem Kopf auf - so wie sie vor dem Unfall gewesen war: blonde Locken, strahlende Augen, rosige Wangen, immer ein Lächeln auf den vollen Lippen. Sie hatte sich nie unterkriegen lassen. Bis zu jenem Abend.
Jetzt wandelte sich das Gesicht in ihren Gedanken zu dem, wie Jessi zuletzt ausgesehen hatte: die Augen matt vor Kummer, dunkle Ringe unter ihnen, blasse und eingefallene Wangen, umrahmt von schwarzem, strohigem Haar. Zittrige, fahrige Bewegungen, als würde jede sie unwahrscheinlich viel Kraft kosten. Sie hatte wirklich gedacht, wenn sie alles gab, wenn sie kämpfte bis zum Umfallen, könnte sie Jessi vom Abgrund zurückzerren. Dann würde sie ihr zeigen können, dass zwar Anne Völkers und ihr Baby ihr Leben verloren hatten, aber sie noch lebendig waren.
Sie wusste, dass auch Jessi sich Mühe gegeben hatte. Das hatte sie nie bezweifelt. Doch ihr war nicht bewusst gewesen, wie finster es in Jessis Blase gewesen war. Jetzt wusste sie es. Das hatte ihre Freundin sie gelehrt. Wenn Til nicht wäre, wäre sie dann auch von der Dunkelheit verschluckt worden und darin verschollen? Wenn sie nicht hierher gelaufen wäre? Wieso war sie überhaupt zu dieser Brücke gerannt? Sie bezweifelte mittlerweile, dass sie sich auf die Steinmauer gehievt hätte und gesprungen wäre. Sie war nicht depressiv gewesen - nur verdammt nah dran.
Trotzdem hatte sie hierherlaufen müssen. Vielleicht um Jessi da nah zu sein, wo sie ein paar wenige glückliche Momente verlebt hatten, als sie schon krank gewesen war? Leonie konnte nicht mehr genau nachvollziehen, was sie damals gedacht hatte, wieso die Aussicht darauf ihren Gefühlen zu entkommen, so reizvoll war. Sie war so einsam gewesen und so verzweifelt.
Aber heute glaubte sie, sie hatte an dem Ort sein müssen, wo sie in den Monaten zuvor Hoffnung geschöpft hatte. Darauf, dass Jessi sich fing. Sie hatte es zumindest ab und an geschafft, ihre Freundin dazu zu bewegen, hierher zu gehen und sich den Kopf hier auf der Brücke freipusten zu lassen. Nicht genug - das hatte der Ausgang dieser Geschichte bewiesen - aber immerhin. Sie hatte hier vor ein paar Monaten nicht nach dem Tod gesucht.
‚Sondern nach Hoffnung', erkannte sie plötzlich und sie schüttelte erstaunt den Kopf.
„Leonie!", hörte sie und wandte sich um, als Til reichlich mitgenommen und schwer außer Atem auf die Brücke stürmte.
Verwirrt sah sie ihn an, weil sie nicht ganz kapierte, wieso er so aufgewühlt wirkte, als er sie in seine Arme riss und fest an seine Brust drückte. Sie spürte sein Herz heftig gegen seine Rippen pochen und wie sich sein Brustkorb hektisch hob und senkte. Seine Wärme umschmeichelte sie und sie schmiegte sich tief in seine Arme, als ihr aufging, dass in ihrer Blase kaum mehr Dunkelheit herrschte. Höchstens Schatten davon. Sie hatte Hoffnung gefunden.
„Leonie, was zum Teufel ist los? Was machst du hier, verdammt?"
„Abschied nehmen. Von der Blase. Von Jessi. Hilfst du mir?"
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Nachbeben
RomanceLeonie kommt im Moment überhaupt nicht klar. Seit dem Suizid ihrer besten Freundin hat sie sich völlig in der Trauer verfangen, die ihr Leben nun bestimmt. Doch gerade, als sie denkt, sie kann nicht so weiterleben, begegnet sie dem Schicksal... Folg...