Ihr Herz pochte heftig in ihrer Brust. Es wussten nicht viele von dem Vorfall damals. Eigentlich nur die Beteiligten und ihre Eltern. Letztere aber nur darum, weil sie dafür gesorgt hatten, dass sie besten Anwälte bekommen hatten, die sie auftreiben konnten. Sie merkte, wie ihre Hände feucht wurden. Til sah sie nur still an. Was, wenn er sich jetzt abwandte? Wenn er mit jemandem wie ihr nichts zu tun haben wollte?
„Ok, Leonie. Das wirst du erklären müssen. Was ist passiert?"
Sie schluckte. Sie wollte sich nicht mehr an diese Nacht erinnern. Noch immer weckte dieser Stachel ihre Schuldgefühle. Sie lebte, während andere gestorben waren. Auch Jessi. Ihre Freundin hatte es nicht weiter geschafft, damit zu leben. Sie hatte es ebenfalls nicht kaltgelassen, aber sie hatte gewusst, dass nichts mehr dieses Unrecht je wieder gutmachen konnte. Sie hatte sich geschworen, das Beste daraus zu machen, dass sie fast unversehrt geblieben waren.
Sie hatte sich in die Beziehung mit Kai gestürzt und alles versucht, um den Schmerz zu betäuben, den sie empfand, wenn sie an diese Nacht dachte. Sie hatte sich deswegen von Jessi entfernt, erkannte sie schlagartig und sie schloss die Augen, weil sich ihre Brust wieder schmerzhaft zuzog. Das hieß, sie war wirklich schuld.
„Leonie?"
„Ja."
„Würdest du mir bitte erklären, was du damit meinst, wenn du sagst, ihr hättet Menschenleben auf dem Gewissen?"
„Es tut weh, sich daran zu erinnern. Ich hab alles getan, um es zu verdrängen."
„Kann ich mir vorstellen. Ich würde es trotzdem gerne wissen."
Sie seufzte automatisch und öffnete die Augen, während sie darum betete, dass jetzt nicht wieder sämtliche Gefühle an die Oberfläche gespült wurden, die sie verdrängen wollte und sagte: „Es war Winter. Wir waren in einem Club und unendlich dumm. Denn wir sind betrunken gefahren. Also ich bin nicht gefahren, weil ich noch viel betrunkener war als Jessi. Alle waren betrunkener als sie. Sie hatte nicht so viel getrunken. Trotzdem war sie über der zulässigen Grenze."
„Wer, wir alle?"
„Jessi und ich und ... zwei Typen, die wir aufgegabelt hatten. Es war nicht weit - 20 Kilometer, dann wären wir bei mir zuhause gewesen. Meine Eltern waren verreist. Wir hatten das Haus und wollten da weiter Party machen. Wir hätten uns ein Taxi nehmen sollen, aber das war uns zu umständlich. Da war ein Funkloch. Wir haben keinen erreicht, niemanden anrufen können, nicht mal den Notruf konnten wir absetzen. Wir konnten sie nicht befreien, wir..."
„Leonie, langsam. Ich komm nicht mit, du bringst alles durcheinander. Beruhig dich erstmal. Hol Luft. Du kippst gleich um, wenn du so weitermachst. Es ist ok, ja?"
„Nein. Nicht ok", erwiderte sie keuchend und versuchte, seinen Anweisungen zu folgen, den Atem langsam in ihre Lunge und in ihren Bauch fließen und dann sanft entweichen zu lassen.
Wie peinlich sie doch war. Sie hatte vor diesem Vorfall nie Panikattacken gehabt. Jetzt bekam sie eine, wenn sie in ein Auto steigen sollte. Immer wieder setzte irgendwas in ihr aus. Davon hatte nicht einmal Jessi gewusst. Sie hatte sie nicht damit belasten wollen, nachdem sie bemerkt hatte, wie es ihrer Freundin ging. Jedes Mal, wenn sie gespürt hatte, dass sich ihre Brust auf diese Weise zuzog und sich ihr Herzschlag auf dieses Level beschleunigte, hatte sie heimlich Pillen geschluckt, damit Jessi das nicht bemerkte. Aber wahrscheinlich hätte sie es nicht registriert. Sie war zeitweise zu sehr in der Dunkelheit gefangen gewesen.
„Leonie, schau mich an. Ganz langsam. Es ist Vergangenheit."
Allmählich spürte sie, wie der Druck auf ihrer Brust etwas nachließ, vor allem, nachdem ihr klar wurde, dass Til nicht aufspringen und gehen würde. Er würde sich die Geschichte anhören, ohne ein Urteil über sie zu fällen, richtig? Zumindest sagte ihr das der Blick in seine dunkelbraunen Augen, die ausdrucksstärker waren, als sie es je erlebt hatte.
Also erlaubte sie sich, den Kopf an seine Schulter zu legen und die Tür zu ihrer Vergangenheit ein bisschen weiter zu öffnen. Sie spürte Tils Herz unter ihrer Wange pochen und schloss die Augen, um sich von diesem Rhythmus beruhigen zu lassen, während all die Gefühle auf sie einströmten, die sie seitdem verborgen hatte. Das Schuldgefühl schnürte ihr jäh wieder die Brust zu und sie bemerkte, wie ihre Handflächen sofort schwitzig wurden.
„Es ist ok. Atme weiter. Ganz ruhig."
„Wir waren so dumm. Haben uns selbst überschätzt. Wir haben diese Typen aufgegabelt und Jessi wollte ohne die zu mir zurück. Aber ich hab sie überredet. Auch dazu, dass wir sie mitnehmen. Ich wollte nicht, dass die Nachbarn mitbekommen, was ich tat. Meinen Eltern ist ihr Ruf so viel wert und da darf nichts nach außen dringen, was vielleicht als ungehörig gelten könnte. Und fremde Typen mit nach Hause zu nehmen und dort - was weiß ich - zu machen ist ungehörig! Erst recht in einem Dorf wie meinem Heimatdorf."
„Ok. Ist in Ordnung."
Sie spürte plötzlich, dass ihr wieder dicke Tränen über die Wangen liefen, aber nur, weil er sie in die Gegenwart gerissen hatte, indem er ihr übers Haar gestrichen und diese Worte geflüstert hatte. Sie musste es jetzt loswerden, das spürte sie schlagartig überdeutlich. Obwohl in ihr ein ungeahnter Sturm tobte. Das war der Anfang vom Ende gewesen.
„Wir hatten alle getrunken. Jessi war am wenigsten besoffen. Ich hatte auch Koks von dem einen Typen probiert. Jessi war sauer. Doch sie war noch am fittesten. Deswegen ist sie gefahren. Aber wir sind mit meinem BMW ins Rutschen gekommen, weil sie die Kurve falsch eingeschätzt hat und die Straße vereist war. Jessi hat es versucht. Sie hat gegengelenkt, versucht, dem Unausweichlichen auszuweichen. Aber wir sind in die Fahrerseite des Kleinwagens geknallt. Mein BMW war so wuchtig, so viel schwerer."
„Oh, Leonie..."
„Der Punto ist von der Straße abgekommen und hat sich überschlagen. Wir haben angehalten. Waren schlagartig wie nüchtern. Uns war so gut wie nichts passiert. Schnittwunden. Prellungen. Wir sind zu dem anderen Wagen hingelaufen. Wir haben versucht, zu helfen. Aber da war ein Funkloch und das Auto hatte sich total zusammengeschoben. Wir haben die Tür nicht aufbekommen. Bis jemand anhielt auf dieser scheißbeschissen gottverlassenen Straße, war es zu spät. Die Fahrerin war bewusstlos, der Motor hat gebrannt. Wir haben es versucht. Sie war hochschwanger...", hauchte sie und merkte, wie die Schuldgefühle endgültig über ihr zusammenschlugen.
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Nachbeben
RomanceLeonie kommt im Moment überhaupt nicht klar. Seit dem Suizid ihrer besten Freundin hat sie sich völlig in der Trauer verfangen, die ihr Leben nun bestimmt. Doch gerade, als sie denkt, sie kann nicht so weiterleben, begegnet sie dem Schicksal... Folg...