Sie stand völlig verunsichert vor ihrer Wohnungstür und in ihren Augen schimmerte ihre Verwirrung. Er hatte es wirklich süß gefunden, wie irritiert sie gewesen war, als sie den Spruch über den Sex mit Fremden gerissen hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde hatten sich ihre Mundwinkel nach oben gezogen, als er gelacht hatte. Er hatte es bemerkt. Sie nicht. Doch jetzt trat sie wieder unbehaglich von einem Bein aufs andere. Ihr Blick flirrte zwischen ihm und der Wohnungstür hin und her. Als würde sie sich danach sehnen ins Innere zu treten und trotzdem würde etwas sie davon abhalten.
Was sich bestätigte, als sie plötzlich das Schweigen brach, das zwischen ihnen geherrscht hatte, seitdem er festgestellt hatte, es käme allein auf die Perspektive an und flüsterte: „Es war ihre Wohnung."
Sie merkte wohl, dass ihn das überraschte, denn sie fügte mit rauer Stimme an: „Nachdem ich gemerkt hab, was los ist, war ich ständig hier. Vorher war mir ja alles andere wichtiger als sie. Ich wollte Jessi demonstrieren, dass sie falschliegt. Aber es hat sich bewiesen, dass sie Recht hat. Es hat nicht wehgetan, als Kai sich von mir trennte. Er wurde furchtbar eifersüchtig, als ich meine Zeit plötzlich mit ihr verbrachte, statt mit ihm. Sie hat vollkommen Recht gehabt."
Er runzelte automatisch die Stirn und hörte: „Mit der Aussage, dass ich einen Panzer um mein Herz hab, ich da niemanden hinlasse und nur mit dem Kopf entscheide, auch in Partnerdingen. Ich hab Stunden in diesem Flur verbracht, nachdem ich verstanden hatte, dass sie unsere Verabredungen nicht absagte, weil ihr was dazwischengekommen ist. Ich hab an diese Tür geklopft, oft wie eine Irre und manchmal hatte ich Glück und sie hat geöffnet."
Er schluckte hart, als er sich vorstellte, wie belastend das gewesen sein musste, und hatte es bildlich vor Augen, als sie flüsterte: „Ich saß mit meinem Laptop da und hab alle paar Minuten gegen die Tür geklopft und geklingelt, während ich an meinen Hausarbeiten feilte. Ich hab gewartet, bis ich ihr genug auf die Nerven gegangen bin und sie öffnete. Und dann bin ich immer erschrocken. So kannte ich Jessi nicht. Kai verstand das nicht. Aber sie war doch schon vor ihm da und ich kenne sie mehr als die Hälfte meines Lebens. Wieso wollte ich ihr beweisen, dass sie Unrecht hat? Dadurch hab ich wertvolle Zeit verschwendet."
Die Qual in ihren Augen war fast greifbar und es schwammen auch wieder Tränen in ihnen. Aber noch hielt sie diese zurück und es wirkte, als wäre sie in eine andere Welt abgedriftet. Seine Brust war ganz eng. Da sagte sie, sie hätte nichts getan, um ihrer Freundin zu helfen. Sah sie das wirklich nicht? War so ein Verhalten für sie so logisch, dass sie nicht begriff, dass sie eine Menge geleistet hatte? Ein abgrundtief schwerer Seufzer drang über ihre Lippen und dann flogen ihre Karamell-Augen mit dem Schuss Mokka wieder zu seinen.
„Ich weiß nicht, warum ich das erzähle. Danke, fürs Begleiten", erklärte sie und es verwirrte ihn, aber er hoffte, dass sie noch nicht im Innern verschwand.
Als würde sie seine Gedanken lesen können, fügte sie an: „Es fühlt sich nicht an wie zuhause. Ich weiß nicht, ob ich nicht immer ein Fremdkörper darin war. Es ist ihre Wohnung. Ich stand nur irgendwann mit meinen Sachen davor, als Kai mich vor die Tür gesetzt hat und sie hat ausnahmsweise gleich geöffnet und mich nur angeschaut. Dann hat sie die Tür ganz aufgemacht, sich umgedreht und ist im Bad verschwunden. An dem Tag hat sie geduscht. Das weiß ich noch. Dafür hatte sie oft keine Kraft mehr. Doch während ich meine Sachen reingetragen hab, hat nebenan das Wasser gerauscht. Ich hab gedacht, das wäre gut. Aber das war es nicht. Nur eine Täuschung."
Er beobachtete, dass ihre Finger sich so fest um den Schlüssel in ihrer Hand gewickelt hatten, dass die Knöchel weiß hervortraten, aber sie drehte sich zur Tür und schob ihn ungelenk und zittrig ins Schloss. Dann wandte sie sich nochmal zu ihm und er sah, wie sich Panik in ihrem Blick breitmachte.
‚Sie hat Angst, allein zu sein', erkannte er und hörte: „Ja, also, danke. Deine Freundin wartet bestimmt."
„Ich hab keine Freundin", stellte er automatisch fest und sie sah ihn verwirrt an.
„Warum? Was stimmt nicht mit dir? Oder bist du schwul?", entfuhr ihr und er musste grinsen, während sich wieder Röte auf ihren Zügen zeigte, und sie stammelte: „Scheiße. Ich rede Blödsinn."
Jetzt sah sie erneut betroffen aus, also zuckte er mit den Schultern, hob ihr Kinn an, sodass sie ihn wieder ansah, und antwortete: „Schon ok. Ich bin nicht schwul. Nur solo. Ich hab auch einen Panzer ums Herz. Das wurde mir in der Vergangenheit immer bestätigt."
„Oh. Ok", erwiderte sie und er merkte, wie sein Herz einen Schlag verpasste, weil sie ihn ansah, als wolle sie mit ihrem Blick in die Untiefen abtauchen.
Doch dann sah sie wieder durch ihn hindurch und fügte an: „Es ist so still in der Wohnung. Ich hab vorher nicht gewusst, dass Gedanken so ohrenbetäubend werden können. Aber das sind sie. Sie schreien dich an und ich kann nicht schlafen, egal, wie müde ich bin. Deswegen gehe ich raus, aber irgendwie verfolgen sie mich. Sie sind leiser und werden von den Geräuschen in der Umwelt gedämpft. Das passiert in der Wohnung nicht. Es ist so still da drin. Und es riecht noch nach Jessi. Ich gehör da nicht hin und doch, woanders kann ich nicht sein. Ich bin müde."
„Willst du, dass ich mit rein komme? Damit du nicht allein bist und es nicht so still in der Wohnung ist?", fragte er kaum vernehmlich und ihre Augen brannten sich wieder in seine.
‚Sie wird ablehnen', dachte er, während er hoffte, dass sie das Angebot so auffasste, wie es gedacht war: Als Beistand.
Zu seinem Erstaunen wurde ihm bei ihrem Blick ganz heiß und seine Finger wurden schwitzig. Was genau passierte hier nochmal? Weshalb stand er hier und wünschte sich, dass sie zusagte? Er kannte sie doch nicht. Und trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass diese Aussage nicht so korrekt war, wie es auf die kurze Spanne angemessen war, in der sie Zeit miteinander verbrachten. Sie hatte nicht auf sein Angebot geantwortet.
Plötzlich unterbrach sie den Blickkontakt und schloss die Wohnung auf, während sie murmelte: „Ich hab nicht aufgeräumt. Ich bin zu müde. Ich bin für alles zu müde."
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Nachbeben
RomanceLeonie kommt im Moment überhaupt nicht klar. Seit dem Suizid ihrer besten Freundin hat sie sich völlig in der Trauer verfangen, die ihr Leben nun bestimmt. Doch gerade, als sie denkt, sie kann nicht so weiterleben, begegnet sie dem Schicksal... Folg...