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Er konnte sich lebhaft daran erinnern, wie Leonie danach vollends zusammengebrochen war und ihm erzählt hatte, sie hätten zusehen müssen, wie die Fahrerin samt ihrem ungeborenen Baby in ihrem Wagen verbrannt war. Noch heute würde sie teilweise die Schreie der Frau hören, nachdem sie aus der Bewusstlosigkeit erwachte und bevor sie aufs Neue aufgrund der Dämpfe ohnmächtig wurde.

Die beiden Typen hätten sie nie wieder gesehen. Jessi war vor Gericht gelandet wegen fahrlässiger Tötung in zwei Fällen. Sie war nur für schwere Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden, doch die psychische Belastung hatte Jessi depressiv werden lassen. Während Leonie krampfhaft versucht hatte, so zu tun, als wäre das alles nie passiert.

‚Genau daher rührten ihre Schuldgefühle', erinnerte er sich und dachte an den Moment, an dem Leonie ihn mit ihren Karamell-Augen mit Mokka-Einschuss zu Tode betrübt angesehen und geflüstert hatte: „Wir haben sie auf dem Gewissen. Eine werdende Mutter und ihr ungeborenes Baby. Ich hab gelebt, während Jessi lästig wurde. Sie hat mich immer daran erinnert, was wir getan hatten. Ich hab nicht verstanden, dass sie ernsthaft krank wurde. Als ich es begriffen habe, war es zu spät. Aber das hab ich auch nicht kapiert. Ich wollte nur meine lebenshungrige Jessi zurück. Doch die war ebenso an diesem Abend gestorben wie die Fahrerin und ihr Baby. Sie hieß Anne Völkers. Die Fahrerin. Sie hieß Anne Völkers und sie hatte ein Leben. Und wir haben es ihr genommen. Genauso wie ihrem Baby."

Seit diesem Geständnis waren drei Monate vergangen. Er hatte das Gefühl, als hätte sich seitdem Leonies Befinden wirklich gebessert. Als hätte die Tatsache, dass sie die Worte ausgesprochen und um die Frau samt ihrem Baby geweint hatte, einen Knoten in ihr gelöst. Zwar haderte sie ab und an noch damit, dass sie Jessi mit ihren Gefühlen im Stich gelassen hatte, aber sie hatte es mehr akzeptiert. Vor allem, seit sie in Therapie war. Sie hatte sich danach Hilfe gesucht, weil sie der Meinung war, sie möchte ihre Beziehung nicht mit diesen Altlasten beschweren.

Er selbst hatte sich nie so wohlgefühlt wie im Moment. Hätte ihm jemand vor einem Jahr erklärt, dass er mit einer Frau zusammenwohnte und darin zudem völlig aufging, hätte er demjenigen gesagt, er würde nicht alle Tassen im Schrank haben. Oder einen Sprung in der Schüssel. Oder was auch immer es für nette Bezeichnungen dafür gab, dass jemand völlig durchgeknallt war. Aber es war so. Leonie machte ihn glücklich auf eine Art und Weise, die er nie für möglich gehalten hatte.

Und heute hatten sie Großes vor: Sie wollten Jessis Zimmer ausräumen und streichen. Es sollte künftig das Wohnzimmer werden, weil Leonie sich weiterhin nicht zutraute, in dem Raum zu schlafen, in dem ihre beste Freundin ihr Leben gelassen hatte. Das Wohnzimmer würde dann endlich zu einem richtigen Schlafzimmer werden. Er konnte es kaum erwarten. Zwar genoss er es, dass sie so eng aneinander gekuschelt auf dem Sofa schliefen - obwohl das völlig irre für ihn war, weil er doch sonst immer Freiraum für sich beansprucht hatte. Trotzdem sehnte er sich danach, in einem richtigen Bett zu schlafen. Sie hatten extra eins gekauft, das morgen geliefert werden würde.

Er war neugierig, was ihn erwartete, wenn er gleich die Wohnungstür aufschloss. In welcher Verfassung sich seine Freundin befand, die morgens wieder den aufgerissenen Abschiedsbrief von Jessi in den Fingern gehalten und ihn verunsichert aus ihren Karamell-Augen mit Mokka-Einschuss angesehen hatte. In manchen Momenten konnte er erahnen, wie sie vor dem Autounfall gewesen war. Da strahlte sie ihn aus vollem Herzen an, aber heute Morgen - bevor er zur Uni verschwunden war - war er sich nicht sicher gewesen, wie sie den Tag überstehen wollte.

Sie konnte den Brief weiterhin nicht lesen, aber er merkte, dass sie ihn jetzt öfter fixierte, wie er da so an der Pinnwand hing. Wenn er eine Wette eingehen sollte, würde er sagen, dass es nicht mehr allzu lange dauerte, bis sich Leonie dem stellen konnte, was Jessi für sie verewigt hatte.

Er steckte den Schlüssel ins Schloss und lauschte. Kein Ton. War Leonie gar nicht da? Er stieß die Tür weiter auf und sah, dass sich im Flur bereits gefüllte Kartons stapelten. Er zog überrascht die Augenbrauen hoch. Er hatte nicht gedacht, dass seine Freundin dazu fähig sein würde, schon mal anzufangen. Sie hatte heute Morgen nicht ganz so stabil gewirkt.

„Leonie?", rief er, nachdem er in Jessis ehemaliges Zimmer geguckt hatte und es leer vorfand.

Aber es kam keine Antwort und er runzelte wieder die Stirn. Wo war sie? Er suchte die Wohnung ab und als er in der Küche ankam, fiel sein Blick auf den aufgerissenen Umschlag, auf dem der Name seiner Freundin prangte. Er schluckte hart. Er sah schon von der Tür aus, dass er leer war. Sie hatte den Brief gelesen. Und jetzt war sie verschwunden.

Er merkte, wie sich Panik in ihm breitmachen wollte. Was, wenn Jessi Leonie wirklich die Schuld an dem gab, dass es sie nicht mehr im Leben gehalten hatte? Wie hätte seine Freundin das wohl aufgenommen? Sie war doch nicht auf eine bescheuerte Idee gekommen, richtig? So schlecht war es ihr heute Morgen auch nicht gegangen. Oder hatte er das missinterpretiert? Automatisch holte sein Verstand die Erinnerungen hervor. Seine Mutter am Tag ihres Todes. Wie fest sie seine Hand umklammert gehalten hatte, als sie zur Schule gelaufen waren. Wie sie sich heftig auf die Unterlippe biss, um die Tränen zurückzuhalten, als sie sich zu ihm hinunterbeugte, um ihm Tschüss zu sagen. Er hatte die Abdrücke ihrer Zähne auf ihrer Lippe gesehen. Wie sie vor ihm in die Knie gegangen war, um ihm einen Kuss auf die Wange zu hauchen und ihm zu sagen, dass sie ihn liebhabe.

Er schluckte hart. Leonie war nicht seine Mutter. Seine Freundin war verdammt nochmal nicht depressiv. Sie nahm wieder mehr am Leben teil. Sie hatte sogar letzte Woche ein Vorstellungsgespräch gehabt, weil sie gedacht hatte, so könne sie sich erneut an einen geregelten Tagesablauf gewöhnen, bis sie im Herbst ihr Studium wiederaufnehmen wollte. Doch seine Mama hatte auch wiederholt von ihren Plänen gesprochen. Stopp! Leonie wollte leben, seine Mutter hatte das nicht gewollt. Trotzdem fiel es ihm schwer, das negative Bauchgefühl abzuschütteln. Was stand in dem verdammten Brief?

Sein Handy vibrierte und riss ihn aus seinen Gedanken. Hastig holte er es aus der Hosentasche und er konnte das Display nicht gleich entsperren, weil seine Finger so schwitzig waren. Als es ihm gelang, wollte er vor Erleichterung aufschreien, als er den Namen seiner Freundin las. Schnell öffnete er die Nachricht, während sein Herz heftig gegen seine Rippen pochte.

„Unsere Brücke. Da, wo ich dir begegnet bin. 30 Minuten? Brauch dich."

Er sah auf die Uhr. Da musste er sich sputen. Sie hatte vielleicht gedacht, er wäre noch nicht von der Uni zuhause. Manchmal verlor sie sich weiter in Raum und Zeit. Sofort machte er auf dem Absatz kehrt und lief los.

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NachbebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt