The Tea

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Am nächsten Morgen werde ich von der Türklingel geweckt. Halb angezogen schlurfe ich zur Tür und öffne. Vor mir steht O'Hare. Heute trägt er keinen olivgrünen Tweedanzug mit rostroten Knöpfen, sondern einen marineblauen Tweedanzug mit schwefelgelben Knöpfen. Darunter ein hellblaues Hemd und eine blassgraue Weste.

»Guten Morgen«, begrüßt er mich und präsentiert mir eine Papiertüte mit dem Logo der Bagel Bakery Bar. »Ich hab' Frühstück.«

Und ich absolut keinen Hunger.

Mehr als Tee kriege ich morgens nie herunter, aber das kann O'Hare ja nicht wissen.

»Komm' rein«, murmele ich, reibe mir den Gries aus den Augen und führe O'Hare in die Küche, die sich zum Wohnzimmer hin öffnet.

Durch die Fenster an der Ostseite fällt der honiggoldene Schein der aufgehenden Sonne herein und spiegelt sich im Glas der Vitrine, in der ich meine gesammelten Erstausgaben aufbewahre. Der ganze Raum ist von Bücherregalen gesäumt. Glitzernde Staubteilchen tanzen in der Luft wie träge Glühwürmchen.

Blinzelnd schleppe ich mich zur Küchenzeile und krame die Blechdose mit meinem zum Frühstück präferierten Yunann-Tee aus dem Hängeschrank über der Spüle.

»Hübsch hast du es hier«, höre ich O'Hare sagen.

Ich schmunzele. Meine Wohnung ist mein kleines Nest. Oder vielmehr: Meine Wohnhöhle. Ich mag es, einen Ort zu haben, an den ich mich zurückziehen kann. Und ja, ich habe viel Zeit und Geld auf die Einrichtung verschwendet. Mehr als Studenten üblicherweise zur Verfügung haben. Das Geld hat mir mein Vater jedoch nicht einfach geschenkt. Ich habe es mir während der Schulzeit erarbeitet, indem ich ihn bei seinen Projekten unterstützt habe. Genau genommen habe ich bloß Kaffee gekocht, Anträge und Akten kopiert, mit Ämtern und Gerichten telefoniert, Kunden bei Laune gehalten und hin und wieder einem Meeting über die Chancen und Gefahren des Braunkohleausstiegs beigewohnt, aber mein Vater hat es mir mit einer Wohnung in einem Londoner Stadtteil meiner Wahl und einem ordentlichen Taschengeld gedankt.

Für mein Studium am UCL komme ich dagegen größtenteils selbst auf. Schon allein, weil ich nicht weiß, wie mein Vater reagieren wird, wenn ich ihm sage, dass ich tatsächlich vorhabe, zu unterrichten. Mit dem Geld, das Mom mir heimlich zusteckt, meinem Kellnerjob und den Nachhilfestunden, die ich an den Wochenenden gebe, komme ich ganz gut über die Runden.

»Tee oder Kaffee?«, will ich wissen.

»Tee«, antwortet O'Hare.

Wenigstens gehört er nicht zu diesen unsäglichen Kaffeetrinkern, die ohne einen konstanten Nachschub an Koffein keinen Schritt tun können. So wie Evie oder Charles, der Älteste meiner jüngeren Brüder.

O'Hare kommt zur Küchentheke, stellt die Tüte mit den Bagels auf dem Tresen ab und schält sich aus seinem Jackett. Die taillierte Weste steht ihm gut und unterstreicht seinen eleganten Körperbau. Wir sind ungefähr gleich groß und schlank, aber O'Hare ist nicht so ungelenk und schlaksig wie ich, sondern wirkt irgendwie mehr Zuhause in seinem Körper. Vielleicht würde ich mich auch wohler mit mir selbst fühlen, wenn ich kein blasser Rotschopf mit einer knochigen Nase wäre, sondern sein markantes Gesicht, seine traumhaften Augen und vor allem seine wuscheligen, rabenschwarzen Locken hätte.

»Du spielst Hockey?«, fragt O'Hare mit Blick auf meine kleine Trophäensammlung auf dem Regalbrett über dem Sofa.

»Ach, das war zu Schulzeiten«, erwidere ich. »Im Moment habe ich nur noch selten Gelegenheit dazu.«

Während ich das sage, gebe ich Wasser in einen Teekessel und stelle ihn auf den Herd. Bei uns Zuhause waren Wasserkocher immer verpönt und ich tue mich schwer, mit dieser Tradition zu brechen.

Dante & Nick: Down The Rabbit HoleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt