Ein Donnergrollen in der Entfernung riss mich am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Laut und hämmernd prasselte der Regen immer noch unentwegt auf das kleine Dach des Häuschens. Was gestern Nacht einen romantische Atmosphäre über diesen Spitzboden warf, wirkt heute Morgen nüchtern und unbehaglich. Mit einem Blick neben mich wusste ich auch sofort, woran das lag. Ethan war weg und mit ihm gefühlt jegliche Wärme.
Ich hielt inne und spürte in mich hinein. Diese neue Art, um zu überprüfen, ob ich mich noch normal fühlte, oder doch eher am Rande des Wahnsinns, wurde mittlerweile fast zu einem Ritual, so wie das Zähneputzen oder das Anziehen.
Doch auch wie die letzten Male spürte ich rein gar nichts. Ich war immer noch Ivy. Abgesehen von den schier eine Milliarden Schmetterlingen, die Ethan heute Nacht in meiner Magengegend frei gelassen hatte, hatte ich mich nicht verändert. Kein Wahnsinn, keine Zerrissenheit. So weit... so normal... so nervenaufreibend. Auf seinen eigenen Untergang zu warten, wenn man sich so klar im Kopf fühlte wie ich, war vollkommen irrational.
Ich nahm mir fest vor, heute mit Ethan zu sprechen. Wir stellte er sich das auch vor? Das ich nun eine Woche hier blieb? Zwei? Bis ich endlich durchdrehte? Und wenn es dann soweit wäre, was dann? Wollte er mich dann in einen Zwinger sperren? Dass ich in meinem Tollwut-Wahn niemandem schadete? Und zum Knutschen kam er dann lebensmüde zu mir rein?
Ich verdrehte die Augen ... vielleicht waren diese bescheuerten Gedanken ja doch schon der Anfang des Wahnsinns. So einen Müll konnte sich ein gesunder Menschenverstand ja kaum ausmalen.
Ich schüttelte genervt den Kopf, seufzte und stand auf.
Doch als ich unten ankam, war ich irritiert. Ethan war nirgends zu sehen. Und Caitlyn schlief noch.
Ich ging nach draußen auf die Veranda. Es war schon hell, und doch wahnsinnig trüb und trostlos. Der Regen hatte zwar ein wenig nachgelassen, dafür war kalter Wind aufgekommen. Er würde das schlechte Wetter hoffentlich bald weiter tragen. Innere Wolfswärme hin oder her... ich vermisste die Sonne Floridas sehr.
Ich schaute mich nach Ethan um. Keine Spur von ihm. Ich ging die wenigen Meter zum Waldrand. Der Wald roch wunderbar. Moosig, erdig, mulchig ... es roch nach feinem Kiefernholz, vollen Zapfen, feuchten Blättern und duftenden Kräutern. Wow ... dieser verbesserte Geruchssinn war schon etwas Feines, das konnte ich nicht leugnen. Das brachte mich plötzlich auf eine Idee. Jedenfalls wäre es eine Versuch wert. Mein Halbblut-Dasein sollte ja schließlich nicht völlig umsonst sein.
Konzentriert schloss ich die Augen, versuchte alles andere auszublenden und nur Ethans Geruch heraus zu filtern. Ich suchte nach seinem süchtig machendem Duft, dieser einzigartigen Mischung aus herbem Amber und dieser Edelholz-waldigen Note. Und ganz plötzlich roch ich ihn. Tief nahm ich seinen Duft auf. Wow. Ich konnte es wirklich heraus filtern, wenn ich mich darauf konzentrierte. Erst jetzt fiel mir auf, dass Ethans Geruch eigentlich überall war. Wie ein Schleier, der sich über das Land gelegt hatte. Und doch schien seine Duftspur nicht mehr frisch zu sein. Er musste also schon eine Weile unterwegs sein.
Langsam öffnete ich meine Augen. Das hatte ich nicht erwartet. Und dass ich es doch geschafft hatte, trieb mir ein kleines Lächeln auf die Mundwinkel.
„Ivy!" Caitlyns Stimme riss mich auf meinen Gedanken. Sie stand in der Tür und sah besorgt zu mir hinüber. „Komm besser rein, Kind!", rief sie weiter. „Ethan würde mich töten, wüsste er, dass du weiter als fünf Meter vom Haus weg bist!"
Ich schmunzelte, verdrehte die Augen und ging zurück zum Haus.
„Guten Morgen", begrüßte ich sie freundlich, als ich in die Stube trat.
„Den wünsche ich dir auch." Caitlyn machte sich daran, Tee aufzusetzen.
„Weißt du denn, wo Ethan schon hin ist?", fragte ich, doch Caitlyn schüttelte den Kopf.
„Ich denke aber, dass er patrouilliert. Nur um sicher zu gehen. Wegen des fremden Duftes gestern."
Ich nickte gedankenversunken. Was Ethan da für mich tat ... ich fand einfach keine Worte dafür.
„Ihr habt aber miteinander gesprochen?", wollte Caitlyn wissen.
Ich nickte und lächelte sanft.
„Dachte ich es mir doch." Sie schmunzelte vielsagend. „Du riechst nach ihm ... sehr sogar!"
„Was meinst du?", fragte ich irritiert.
„Was auch immer ihr da oben heute Nacht gemacht habt." Caitlyn lachte glucksend. „Es war nicht Ethans schlechteste Idee, deinen menschlichen Duft mit seinem zu überdecken."
Ich riss die Augen auf und schlagartig stieg mir Hitze auf die Wangen. „Also ... oh mein Gott ... wir haben nicht ... nicht du-weißt-schon-was." Ich schüttelte vehement meinen immer roter werdenden Kopf.
Caitlyns Schmunzeln wurde breiter. „Und selbst wenn ... ich habe einen tiefen Schlaf, also lasst euch nicht stören, Kinder."
Schamvoll schlug ich meine Hände vor die Augen. „So war das nicht, Caitlyn!", quiekte ich. „Ethan, er ... er ist ein Gentlemen." Ich war geneigt, leider zu denken, doch eigentlich war ich froh, dass wir nicht gleich in der ersten Nacht in die Vollen gegangen waren.
Caitlyn zwinkerte mir zu. „Ich will dich nur ärgern, Kind. Entspann dich." Sie übergoß frische Pfefferminze mit dem siedendem Wasser.„Also, wie geht es dir heute, hm?"
„Du wirst es kaum glauben...", ließ ich sie wissen, während ich mich auf einen Stuhl hockte. „Ausgesprochen normal. Und genau so un-wahnsinnig wie gestern."
Caitlyn nickt. Ihr weißes Haar war wie gestern in einen hübschen Flechtezopf verschlungen. „Das ist gut." Sie wendete sich wieder ihrem Tee zu.
„Darf ich dich etwas fragen, Caitlyn?"
„Hm?"
„Wie lief das damals bei ... bei deinem Sohn ab?", fragte ich vorsichtig. Auf keinen Fall wollte ich sie bedrängen oder ausquetschen. Und doch war es mir unglaublich wichtig, von Calebs Geschichte zu hören. Ich musste es einfach wissen. Ich musste wissen, was wohl oder übel auf mich zukommen würde.
Caitlyn presste ihre faltigen Lippen zu einer einzigen, feinen Linie. Sie räusperte sich. „Nun ... zwei Primus-Anwärter fanden ihn. Am zweiten Tage nach seinem Fieber." Sie schluckte und ihre Augen wurden plötzlich glasig. „Caleb, er ... er hatte einem Freund von seinen neuen Fähigkeiten erzählt. Ich hatte ihm nie etwas über Wolfswandler gesagt. Ich wollte einfach, dass er eine glückliche, unbeschwerte Kindheit hat. Und nach dem Fieber..." Sie schüttelte sanft den Kopf. „Ich konnte ihn ja schlecht einsperren. Jedenfalls, dieser Freund, er ... naja ... er war keiner. Er war ein Wolfswandler aus einem anderen Rudel. Sie haben ihn offenbar heimlich überprüft. Dann wurde er verraten."
„Das ... das ist ja furchtbar", flüsterte ich erschrocken.
Caitlyn nickte, ehe sie sich aus ihrer Erinnerung los zu reißen schien und mich wieder klar fokussierte. „Ich denke, es war besser so."
„Warum?", flüsterte ich unverständlich.
Sie presste die Lippen aufeinander und sah mich mittleidig an. „So musste ich nicht ... naja ... miterleben, was ... du weißt schon."
Sonst aus ihm geworden wäre. Ich wusste sofort, was sie meinte.
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Das Flüstern des Alphas | ✔︎
Fantasy( WATTYS 2023 Shortlist ) Wolfsfieber oder Prägung sind für Ivy Adams Fremdwörter, mit denen sie rein gar nichts verbinden kann. Sie und ihre beste Freundin Hope sind vielmehr damit beschäftigt, endlich ins Campusleben einzutauchen und so genießen s...