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Ich hatte zwar versucht, mich zu erklären, aber schnell gemerkt, dass es keinen Sinn hatte. Ethan war einfach zwischen meinen Erklärungsversuchen eingeschlafen.

Seitdem ließ ich mir Ethans schmerzende Worte in dieser Nacht wieder und wieder durch den Kopf gehen. Hatte er Recht?

Er hatte zwar immer gesagt, dass die einseitige, unerfüllte Prägung für ihn keine Rolle spielen würde, aber dass vielmehr ich diejenige sein würde, die damit nicht umgehen könnte, hatte er wohl schon lange geahnt. Darum hatte Ethan auch versucht, es vor mir zu verheimlichen. Er kannte mich einfach zu gut.

Traurig lauschte ich seinem ruhigem, sanftem Atem, als ich zu weinen begann. Wie zum Himmel konnte es sein, dass ich ihn so sehr liebte, und doch einen anderen Mann geküsst hatte. Wieso konnte ich ihn wissentlich so verletzen? Ich verstand es einfach nicht.

Plötzlich überrumpelten mich alle aufgestauten Zweifel, Gefühle und Ängst der letzten Tage.

Mit allen Kräften hatte ich die letzten Wochen versucht, das beste aus meiner Halbblut-Situation zu machen – und schlussendlich war es doch nicht genug. Ich hatte das Gefühl, gescheitert zu sein.

Denn meine Gene konnte ich nicht ändern.

Meine Prägung auf Ethan nicht erzwingen.

Meine merkwürdigen Gefühle für Chris nicht stummschalten.

Und meine Wölfin nicht ein Leben lang unterdrücken.

Ich spürte sie – seit dem Streit auf der Party und dem fast-Verwandeln noch viel stärker. Es war, als würde sie auf mich warten ... als wollte sie endlich raus. Und doch durfte sie es nicht. Ich durfte es nicht zulassen. Weil Ethan es für besser hielt. Wie lange würde ich diesen Willen noch unterdrücken können?

Und dann die Sache mit Chris. Ich hatte Ethan verraten. Ich hatte seinen besten Freund geküsst, an dem Tag, an dem ich von seiner Prägung erfahren hatte.

Und auch mit dem neuen Wissen über die Prägung und dem dazugehörigen Lebensband taten sich neue Probleme auf. Wie sollte ich mich nun Chris' Eltern stellen, wissend, dass mein Schicksal nun auch direkten Einfluss auf Ethan hatte? Dass ich sein Schicksal in gewisser Weise mit in der Hand hatte.

Das machte die Sache mit dem unvorhersehbaren Wandeln nur um so gefährlicher – nun nicht mehr nur für mich.

Im Grunde sprach das allerdings nur noch mehr dafür, die Sache mit den Primus zu klären. Würden sie mich begnadigen, müssten wir auch keine Angst mehr vor den Anwärtern haben und ich müsste auch keine Angst mehr vor meiner Wölfin haben. Und ich könnte in Frieden mit Ethan leben.

Aber mich gegen Ethans Willen stellen?

Der innere Kampf, der in mir loderte, ließ mich nicht eine Sekunde Ruhe finden.

*

Am nächsten Morgen wurde ich früh wach. Ich fühlte mich völlig ausgelaugt, müde und leer und dass die Sonne erbarmungslos ins Fenster schien und ihr gleißendes Licht beinahe folternd auf mein Gesicht warf hatte ich wohl mehr als verdient. 

Ich stand auf und schlurfte träge zum Fenster, als ich zufällig Hades entdeckte, der seine Joggingrunde über den noch im Morgendunst liegenden Campus lief. Ich musste schnauben. Genau in diesem Moment konnten wir wohl kaum unterschiedlicher sein. Er, der vor Kraft und Energie nur so strotzende Kerl – ich, der betrügende, bemitleidenswerte Genfehler. 

Doch gerade als Hades aus dem Sichtfeld meines Fensters lief, kam mir plötzlich sein Lebensmotto in den Sinn kam. Richte deinen Fokus auf die Lösung und nicht auf das Problem

Ich hielt inne. Hades hatte Recht. Selbstmitleid und Zweifel brachten einen nicht weiter, und mich in meiner Situation erst recht nicht. Ich war es Ethan schuldig. Ich musste was tun. Ich musste für Klarheit sorgen. Und zu aller erst musste ich – meinen Kopf frei bekommen. 

Also schmiss ich mir kurzerhand meine Klamotten über, schnappte mir meinen Mantel und Ethans Schal. Dann warf ich einen Blick auf meinen immer noch ausgeknockten Riesen und beinahe verlockte mich sein Anblick dazu, wieder zurück in sein Bett zu kriechen, und jede einzelne Faser seiner beeindruckenden Rückenmuskulatur mit den Fingerspitzen nachzufahren. Aber eben nur beinahe ...

Die frische Luft tat gut. Ich schlenderte eine Weile den gepflasterten Weg Richtung Mensa entlang. Immer wieder atmete ich tief die kühle Brise ein, füllte meine Lungen mit etwas, von dem ich mir Klarheit erhoffte, die doch nicht so recht eintreten wollte. 

Dafür erfreute ich mich heimlich an den Gerüchen des Herbstes. Es roch nach herbem Eichenholz, würzigen Kräutern, erdigem Moos und frischem Ahorn. 

Ich folgte dem angenehmen Duft, ließ mich gedankenlos Treiben in der herbstlichen Welt der Aromen, die ich vor meinem Fieber niemals derart stark wahrgenommen hätte, als ich spürte, wo es mich hinzog. Ich hatte die Wege des Campus' verlassen und stand am Rande des beginnenden Waldes und obwohl es eigentlich gar nicht zu meiner wirklichen Gefühlslage passte, fühlte sich ein Teil in mir regelrecht euphorisch an. Sofort wusste ich, was oder besser gesagt wer das war. 

"Ich kann dir nicht nachgeben", murmelte ich mir selbst zu. Meiner inneren Wölfin war dies herzlich egal. Ich spürte sie ganz deutlich, mit jeder Faser ... sie war bereit. Aber mein Kopf verbot mir das Wandeln. "Ethan würde mich umbringen", murmelte ich ihr erneut zu, als mich ein Knacken neben mir zusammenzucken ließ und mich aus meinen Gedanken riss. Als ich mich zu dem Geräusch drehte sah ich jedoch nichts. 

Ich seufzte. Es war wohl besser, wenn ich zurück ging. Ich war schon viel zu lange weg gewesen. 

Plötzlich knackte es erneut neben mir. Blitzartig fuhr ich herum, als ein unbeschreiblicher Schmerz jäh meine rechte Schulter durchzog und eine schier unvorstellbare Kraft mich machtvoll von den Füßen riss. 

Ich spürte, wie die Zähne eines riesigen Mauls sich in meine Schulter bohrten, mein Schlüsselbein unter dem Druck nachgab und es in gefühlt tausend Stücke brach. Innerhalb eines Wimpernschlags flog ich durch die Luft und krachte gegen den nächsten Baum, vor dem ich schmerzbetäubt liegen blieb. 

Einzig mein Adrenalin ließ mich ein letztes Mal den Kopf heben, um meinen Angreifer auszumachen. Ein riesiger, hellbraunen Wolf kam mit gesenktem Kopf auf mich zugestapft, seine Zähne gefletscht und mit meinem Blut gefärbt, ehe mir schwarz vor den Augen wurde.

Das Flüstern des Alphas | ✔︎Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt