Furcht. Ich hatte keine Ahnung, was dieses Gefühl wirklich war. Vielleicht hatte ich geglaubt es zu wissen, wurde aber eines besseren belehrt, in dem Moment, als ich sie das erste Mal wahrgenommen hatte.
Zunächst war es nur ein Gespür, welches mich beschlich, nicht länger mit Lenny alleine zu sein. Und dann wurde aus dem Gespür Gewissheit. Lautlosen Schrittes gingen sie nach und nach an der Hütte vorbei und traten ein ... zwei Männer und zwei Frauen.
Groß in der Statur, breitschultrig und muskulös. Sie waren barfuß, trugen zerrissen Lumpen, fast schon Fetzen und hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich annehmen können, es seinen Landstreicher auf der Suche nach einer Schlafgelegenheit für die Nacht. Aber diese vier Menschen waren keine Landstreicher, dessen war ich mir sicher.
Alle vier trugen die gleiche Kette, an deren Ende ein Art Medaillon vor ihrer Brust baumelte. Und schlagartig wurde mir speiübel – Ich wusste, was das war. Ethan hatte mir davon erzählt. Es war das Erkennungszeichen der Primus. Ein Medaillon, dass man erhielt, sobald man ins Primus-Rudel aufgenommen wurde. Es enthielt etwas, das den Wolfsgeruch komplett neutralisierte. Es war ein Relikt aus früheren Zeiten, das Hexen und Hexer verwirren sollte.
Schlagartig hatte ich das Gefühl, aus lauter Furcht vollends gelähmt zu sein. Ich wollte zurückweichen, mich verstecken und klein machen, aber ich konnte mich nicht bewegen, konnte kaum atmen. Die Anwesenheit der Primus und die Angst vor ihnen machte mich handlungsunfähig.
„Einen wunderschönen Nachmittag wünschen wir", sprach eine der beiden Frauen und sofort stellte sich jedes verdammte Haar meines Körpers auf. „Ich sehe, wir kommen genau richtig." Ihre Stimme war eiskalt, und gleichzeitig so scharf, als würde sich jedes verdammte Wort in meine Haut ritzen.
Die Frau trat einen Schritt vor. Ihre Haare waren hellblond, fast weiß, und waren wohl seit Jahren nicht mehr gekämmt worden. Ihr Gesicht wirkte eingefallen, doch ihre Augen schneidend. Sie blickte hinab auf den vor mir liegenden, leise winselnden Wolf.
Lenny hatte seinen Kopf auf seine Pfoten abgelegt und sah mich mit traurig-verlorenen Augen an. Er hatte die Primus nicht einmal angeschaut, seitdem sie gekommen waren.
Die Frau ging einen weiteren Schritt auf Lenny zu. „Steh auf, Anwärter." Unerschrocken tätschelte sie sein dichtes Nackenfell. „Das hast du gut gemacht. Ein wahrlich würdiger Anwärter. Wenn doch nur alle so viel Weitsicht wie du hätten. Du wirst ein sehr treu sorgendes Mitglied in unserer Mitte werden, da habe ich keinen Zweifel."
Sie stand wieder auf und stellte sich zurück in die Reihe der Ihren.
Als habe sie Lenny an eine unsichtbare Leine genommen, stand er langsam auf und kam auf allen Pfoten vor mir zu stehen. Er schaute mich einen Moment lang an, mit einem Ausdruck in den Augen, den ich nicht deuten konnte, ehe er sich von mir losriss und langsam auf die Primus zuging.
Die blonde Frau lächelte freundlich und nickte mit ihrem Kopf Richtung Ausgang.
Lenny trottete weiter zur Tür.
„Ach, Lenny?"
Der Wolf blieb wie angewurzelt stehen.
Die Frau räusperte sich. „Nun, dieses untreue Rudel ist noch nicht da. Sie werden aber sicher bald eintreffen? Immerhin hast du uns doch versprochen, dass es so kommen würde, nicht wahr? Und du willst uns doch nicht enttäuschen, stimmt's? Sonst müsste ich dafür sorgen, dass du es unserem Anführer beichtest."
Lenny nickt.
„Sehr schön." Sie nickte ebenfalls. „Eine Sache hast du aber glaube ich vergessen." Sie hob ihren Arm und zeigte mit ihrem langen, dürren Finger auf mich.
Lenny senkte seinen schweren Wolfskopf in meine Richtung und blinzelte mich an. Von der einstigen Entschlossenheit war nichts mehr zu erkennen. Dann drehte er sich den Primus zu, wandelte zurück in seine menschliche Gestalt und trat vor die Reihe.
„Ich ... ich wollte es tun. Aber ich konnte nicht. Sie ... sie ist irgendwie anders, als andere ... Halbblüter", begann er zu erzählen, und seine Stimme erinnerte mich nun mehr an den alten Lenny, als an den furchteinflößenden Wolfswandler, der er eben noch war.
„Inwiefern?" Die blonde Frau hob sichtlich interessiert eine Braue in die Höhe.
Ich spürte, wie hart mein Herz gegen meine Brust schlug. Ich wagte kaum zu atmen und selbst meine Schmerzen schienen vor Angst wie betäubt.
„Sie ... ich ... Ich denke sie ist ein Alpha-Halbblut." Lenny blickte nervös zu mir hinüber. „Ich konnte nicht anders, als mich ihr zu ... zu unterwerfen. Sie beherrscht das Alpha-Flüstern. Und ihre Macht war ... war sehr stark."
Die Reihe der Primus blickte zu mir hinüber und mustert mich gespannt.
„Sieh an", stellte einer der Männer fest und zog eine buschige Braue in die Höhe. „Interessant."
„Lenny!" Die Frau lächelte beruhigend, doch ihre Augen taten es nicht. „Du weißt, dass Halbblüter so etwas nicht können. Da haben dir deine Nerven wohl einen Streich gespielt." Sie gluckste.
„Ich ... ich bin mir sehr sicher ... sie ist..."
„Schweig!", fuhr sie ihn wie aus dem Nichts an und Lenny zuckte zusammen. Dann wurde ihre Mimik wieder weicher. Lächelnd atmete sie aus. „Du darfst jetzt gehen, Lenny."
Lenny nickte, dann schaute er mich ein letztes Mal kurz an und verließ die Hütte.
Nur Sekunden später brach vor der Tür ein lautstarker Tumult los, ich hörte Kiefer schnappen, wuchtiges Knallen, ein kurzes, durchdringendes Keuchen und dann war es plötzlich ganz still.
Schlagartig wurde mir flau im Magen, und meine Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Ich verstand, dass ich Lenny gerade wirklich zum letzten Mal gesehen hatte. Er war tot.
Und die Gewissheit, dass vor der Tür weitere Primus waren, lähmte mich vollends.
Davon völlig ungeachtet trat die Frau wieder einen kleinen Schritt hervor und lächelte mich nun sichtlich begeistert an. „Fein! Die Gerüchte stimmen also. Ein Alpha-Halbblut." Sie kam vor mir in die Hocke, strich mir über Haar und und sah mir tief in die Augen. „Da wird Aeris sich freuen."
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Das Flüstern des Alphas | ✔︎
Fantasía( WATTYS 2023 Shortlist ) Wolfsfieber oder Prägung sind für Ivy Adams Fremdwörter, mit denen sie rein gar nichts verbinden kann. Sie und ihre beste Freundin Hope sind vielmehr damit beschäftigt, endlich ins Campusleben einzutauchen und so genießen s...