Ein Aufbruch ins Ungewisse

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Ich starre auf den kleinen Beutel, den ich mit Heilkräutern, essbaren Wurzeln und Beeren gefüllt habe. Daneben, eingewickelt in Blätter, liegt etwas getrocknetes Fleisch. Das hat hoffentlich noch Platz in dem Beutel. Während ich darüber nachgrüble, befestige ich den ledernen Trinkbeutel an den Gürtel, wo auch mein Messer hängt. Dann packe ich auch das Übrige zusammen. Die ganzen Utensilien ziehen meinen Gürtel schon ziemlich nach unten, aber ich kann damit laufen. Also werfe ich mir meinen Köcher über die Schulter und nehme den Bogen zur Hand. Fertig. Unschlüssig stehe ich da. Noch ist es stockdunkel, doch die Füchsin in mir verleiht mir die Fähigkeit, sogar mit Menschenaugen ein wenig besser zu sehen. Thion lässt ein lautes Schnarchen ertönen. Immerhin einer, der Schlaf findet. Ich blicke zu dem Haufen Felle, unter welchem er liegt. Ahnt er wirklich nicht, was ich vorhabe? Hat er keinen Verdacht geschöpft? Wahrscheinlich hält er mich nicht für so dumm und lebensmüde. Bereits seit zwei Tagen plane ich meinen Aufbruch. Meinen Aufbruch, der mich für immer aus dem Dorf der Thalier führen wird. Lange habe ich überlegt. Beinahe zwei Monde. Doch da sich meine Lage noch immer nicht gebessert hat und das Misstrauen mir gegenüber keineswegs verschwunden ist, habe ich mich entschieden. Ich werde gehen. Wohin weiß ich nicht, doch das ist mir egal. Es ist besser so. Für uns alle. Und ich bin es leid wie eine Verbrecherin behandelt zu werden.

Entschlossen mache ich einen Schritt zur Tür. Trotz meiner Entscheidung fühlt sich mein Herz bleischwer an. Thion und Finn zu verlassen ist das Schwierigste, das ich je bewältigen musste. Ich fühle mich, als ob ich sie verraten würde. -Na, dann bist du immerhin das, was sie sagen Avalin.-, schießt es mir durch den Kopf. Nein, daran darf ich jetzt nicht denken. Ich muss mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Erneut sehe ich zu Thion. Er wird mir so schrecklich fehlen. Doch ich kann nicht bleiben. Mein Entschluss steht fest.

Auf leisen Sohlen schleiche ich zur Tür und schlüpfe hindurch. Die kalte Nachtluft empfängt mich. Sie hilft mir, meine Gedanken zu ordnen. Ich bin ausgerüstet, um eine Weile im Wald überleben zu können. Solange mir das Wild vor die Pfeilspitze läuft und ich Quellen finde, um meinen Wasservorrat aufzufüllen, dürfte ich klarkommen. Trotzdem hämmert mein Herz bis zum Hals. Angst. Ja, ich habe Angst. -Los jetzt Avalin.-, versuche ich mich anzutreiben. -Je länger du zögerst, desto schwerer wird es.- Ich lasse den Blick durchs Lager schweifen. Die Hütten wirken selbst in der Dunkelheit so vertraut. Jeden Winkel hier kenne ich in und auswendig. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich als Kind mit Finn zwischen den Hütten und Sträuchern Verstecken gespielt habe. Er hat mich jedes Mal sofort gefunden, kannte all meine Verstecke. Das waren gute Zeiten. Doch sie sind vorbei. Nun bin ich auf mich allein gestellt. Die Außenseiterin allein im Wald. Ein streunender Fuchs. Passend. Um nicht im Selbstmitleid zu ertrinken, reiße ich mich aus meiner Starre. Jetzt oder nie. Mit steifen Schritten lasse ich Thions und meine Hütte hinter mir, setze einen Fuß vor den anderen. Immer weiter. Mit jedem Stück, das ich mich entferne, wird mein Herz schwerer und schwerer. Aber ich gehe weiter, halte nicht an. Bald schon verschluckt die Dunkelheit mein ehemaliges Zuhause.

Natürlich verlasse ich das Lager nicht durch den Hauptausgang. Die Wachen dort würden mich sofort wieder zurückschicken. Aber da ich alles hier seit kleinauf kenne, bin ich schon bald außerhalb der Grenzen. Und dann stehe ich mitten im Wald, in völliger Dunkelheit. Ich spüre, wie sich die Füchsin in mir regt, versucht hinauszubrechen, doch ich halte sie unter Kontrolle. Seit dem Vorfall mit dem Troll habe ich mich nicht mehr verwandelt. Seufzend massiere ich meine Schläfe. Wohin jetzt? Ich weiß es wirklich nicht. Egal in welche Richtung ich gehe, die Antworten, nach denen ich suche, werden sich nicht so einfach finden lassen. Plötzlich plagen mich Zweifel. Vielleicht hätte ich mehr in Erfahrung bringen sollen, bevor ich mich einfach auf- und davonmache.

Es ist kein Geräusch, das mich aufschrecken lässt, sondern eher eine Ahnung. Die Füchsin ist mächtiger, als ich dachte. In einer flüssigen Bewegung fahre ich herum, ziehe einen Pfeil aus dem Köcher und lege ihn in den Bogen, bereit zum Schuss. Mein Herz hämmert so heftig, als wolle es mir jeden Augenblick aus der Brust springen. „Komm raus!", zische ich, versuche die Angst aus meiner Stimme zu verbannen. „Ich weiß, dass du hier bist! Zeig dich, oder ich schieße!" Blätter rascheln. Äste knacken. Mir stockt der Atem. Am liebsten hätte ich kehrtgemacht und wäre davongelaufen. „Verdammt Avalin, nimm das Ding runter!" Kein Monster, keine Gefahr. Ich bin so perplex, dass ich um ein Haar die Bogensehne losgelassen hätte. Vor mir taucht eine Gestalt auf. Die Arme hat sie erhoben, den Kopf eingezogen. „Finn?!", bringe ich völlig fassungslos hervor. „Was tust du hier?!" Langsam senke ich den Bogen. Mein bester Freund stellt sich etwas aufrechter hin und lässt die Arme wieder sinken. Es ist so dunkel, dass ich sein Gesicht kaum erkennen kann. „Dasselbe könnte ich dich fragen.", erwidert er und ich meine aus seiner Stimme einen Vorwurf herauszuhören. Ich beiße mir auf die Lippe. Mein Vorhaben jetzt noch zu leugnen wäre unsinnig. Außerdem bin ich Finn die Wahrheit schuldig. Ihm vielleicht mehr als allen anderen. „Hör zu Finn, ich..." „Du wolltest abhauen.", fällt er mir ins Wort. „Einfach so. Still und heimlich." „Ja, das wollte ich Finn. Ich gehöre hier einfach nicht her." Mein bester Freund macht einen Schritt auf mich zu. „Das ist Unsinn Avalin. Alle mögen dich. Du willst doch nicht wirklich wegen dieses einen Zwischenfalls einfach klein beigeben." Das er dieses Verhalten aller mir gegenüber so herunterspielt, macht mich wütend. „Du hast leicht reden. Dich behandelt ja auch niemand wie einen Aussätzigen. Ich ertrage es einfach nicht mehr anders zu sein." „Und was hast du jetzt vor?" „Herausfinden wer ich wirklich bin. Irgendwo muss es Antworten oder Hinweise geben." „Ach und du meinst, die fliegen dir hier im Wald einfach zu?" „Verdammt, ich weiß doch auch nicht, wo ich suchen soll!", gebe ich bissig zurück. „Aber wenn ich hierbleibe, dann werde ich nie erfahren, zu wem ich eigentlich gehöre." Darauf sagt Finn nichts. Er sieht mich einfach nur an. Irgendwie beunruhigt mich das. Wird er versuchen mich aufzuhalten? „Es ist meine Entscheidung.", sage ich eilig, um ihm dazu keine Möglichkeit zu geben. „Ich habe ein Recht zu erfahren, wer ich bin. Und wenn du versuchst mir das auszureden, muss ich dir leider sagen, dass du scheitern wirst." Erleichtert merke ich, dass ich durchaus sicherer klinge, als ich mich fühle. „Das weiß ich.", antwortet Finn ernst. „Und deshalb gehe ich auch mit." Perplex sehe ich ihn an. „Was?" „Ich komme mit dir. Schließlich ist es allein zu gefährlich. Gepackt habe ich schon. Mir war klar, dass du jede Nacht losgehen könntest. Hier, Essen, Trinken, meine Waffe. Alles dabei." Noch immer sehe ich ihn an, als hätte ich einen Geist vor mir. „Aber..." Mehr bringe ich nicht hervor. Ich habe damit gerechnet, dass er mich zum Umkehren zwingen will, dass er mir Thion auf den Hals hetzt, oder versucht, mich eigenhändig ins Lager zu zerren. Aber, dass er mich so mir nichts, dir nichts begleiten will, überrascht mich. „Finn." Endlich finde ich die Sprache wieder. „Ich glaube das ist keine so gute Idee." „Vergiss es Avalin.", fällt er mir ins Wort, noch ehe ich begründen kann, weshalb. „Wenn ich dich nicht zum Umkehren bewegen kann, dann du mich sicherlich auch nicht. Entweder gehen wir gemeinsam oder gar nicht. Ich lasse dich nicht allein." Er verschränkt die Arme vor der Brust. Ich zögere. Finn ist ein Sturkopf. Vermutlich ein noch größerer als ich. Er hat sein Vorhaben geäußert und davon wird er sich nicht abbringen lassen. Im schlimmsten Fall folgt er mir heimlich. Seine Treue rührt mich. Einen besseren Freund könnte ich mir wahrlich nicht wünschen. Und obwohl ich es mir niemals verzeihen könnte, wenn ihm etwas zustoßen würde, fühle ich mich mit einem Mal besser. Ich bin nicht allein. Also nicke ich. „In Ordnung. Dann gehen wir zu zweit." Ehe ich es mich versehe, finde ich mich in einer Bärenumarmung wieder. „Danke du Sturkopf!" „Finn!", kichere ich. „Du erdrückst mich ja!" Er lässt mich wieder los und ich werde ernst. „Aber was ist mit deinen Eltern?" Selbst im Dunkeln erkenne ich, wie Finns Lächeln verschwindet. „Ich verlasse sie nicht für immer. Wenn sie merken, dass wir beide fort sind, werden sie wissen weshalb und sie werden damit klarkommen." Für mich hört es sich so an, als würde mein bester Freund sich selbst davon überzeugen wollen. Mir fällt der Traum ein, den ich vor nicht allzu langer Zeit gehabt habe. Finn, der von Schatten verschlungen wird. Hoffentlich ist das kein böses Omen. Eilig nehme ich Finn bei der Hand. „Bist du dir wirklich sicher?" Seine Hand fühlt sich warm und kräftig an. Er drückt kurz die meine. Das schenkt mir wieder ein wenig Zuversicht. „Todsicher." Finn sieht mich direkt an und für einen Moment überwältigt mich die Dankbarkeit und die Zuneigung, die ich für ihn empfinde. „Also, in welche Richtung?", fragt mein bester Freund, um die aufkommende Stille zu unterbrechen. Ich zögere und zeige dann wahllos nach Westen. „Da lang." Finn drückt meine Hand erneut. „Da lang.", wiederholt er. Dann setzt er sich in Bewegung und zieht mich mit sich.

Fuchs unter WölfenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt