Der Anblick des toten Jägers ist so grauenhaft, dass ich Finn am Arm packe. Neben mir höre ich Ikaron, einen gleichaltrigen Jäger, aufkeuchen. "Sind... sind das Krallenspuren?" Er zeigt mit dem Finger auf die zerfetzte Kleidung des Toten und tatsächlich. Lange Streifen verlaufen, vor allem auf Brusthöhe, durch den Stoff und das darunterliegende Fleisch von Majendron. Ich nehme kaum wahr, wie sich meine Fingernägel in Finns Arm bohren. Welches Wesen hat derart riesige Klauen? Thion kniet sich neben Rhun. Eine Weile ist es still. Dann blickt unser Heiler auf. "Rhun wir müssen reden." Unser Anführer nickt grimmig. Dann wendet er sich uns zu. "Ardan, Fagris!" Zwei Jäger treten vor. Rhun macht ein gequältes Gesicht. "Bitte tragt Majendron zu unseren Gräbern. Wir werden uns später um eine ehrenvolle Bestattung kümmern." Er sieht zu uns anderen. "Zwei oder Drei von euch sollen ein Grab ausheben, in das wir Majendron legen werden. Die anderen..." Er stockt. "Folnor?" "Rhun?" Der sonst so fröhliche Folnor tritt mit todernstem Blick vor. "Kümmere dich bitte darum, dass Wachen am Lagereingang aufgestellt werden. Ich will, dass weder Jäger noch Kämpfer vorerst den Wald betreten, schon garnicht alleine." Folnor nickt. "Ich werde dafür sorgen." Rhun wirft dem Auserwählten einen dankbaren Blick zu. "Bitte bleibt alle ruhig.", sagt er dann mit fester Stimme. "Majendrons Tod ist furchtbar. Doch das Einzige, das wir nun tun können, ist vorerst Ruhe zu bewahren. Wir dürfen durch unsere Angst nicht schwach wirken." Er holt tief Luft. Selten habe ich den jungen Anführer so unsicher gesehen. "Aber glaubt mir meine Gefährten, egal was Majendron auf so grausame Weise getötet hat, wir werden es vernichten." Leises Gemurmel macht sich unter den anderen breit. Dann nickt Rhun Thion zu und gemeinsam machen sie sich auf den Weg zur Hütte des Anführers.
Eine Weile herrscht Totenstille. Irgendwann tritt Folnor vor. "Ardan, Fagris, bitte bringt Majendrons Leichnam fort." Die beiden nicken und heben den Toten behutsam hoch. Viele Augenpaare folgen ihnen. "Nun." Folnor wendet ich an uns. "Ich benötige einige Krieger, die den Eingang bewachen. Ihr könnt euch stündlich abwechseln." Einige Stammesmitglieder treten vor und werden eingeteilt. "Der Rest geht bitte seinen Aufgaben nach. Aber vergesst nicht, was Rhun befohlen hat. Keiner geht in den Wald." Langsam löst sich die Gemeinschaft auf. Ich starre auf den Blutfleck, den Majendrons Leiche auf dem Boden hinterlassen hat. Finn legt mir sanft die Hand auf die Schulter. "Komm Avalin." Mit steifen Schritten folge ich meinem besten Freund. Als ich kurz aufsehe, begegne ich dem Blick von Ikaron. Eilig weiche ich ihm aus.
Ikarons erste Verwandlung erfolgte bereits sehr früh, weshalb die meisten Jungen und Mädchen unseres Alters ihn als ihren selbsternannten Anführer sehen. Er ist stark, jedoch auch sehr geschickt und gerissen. Außerdem wirkt er, als hätten ihn die Naturgeister persönlich erschaffen. Sein dunkelblondes, eher kurzes Haar, fällt ihm beinahe in die Augen, die grün sind wie meine. Sie stechen hervor und verwirren jeden, den sie anstarren. Seine Haut ist von der Sonne dunkler geworden. Seine Lippen sind leicht geschwungen und auffallend rot. Er ist groß und kräftig gebaut, jedoch nicht so übertrieben wie einige andere Mitglieder im Stamm. Kurz, er ist genau das, was man unter einem Jäger versteht und der Held der meisten Mädchen.
Ehrlich gesagt bin ich ihm immer aus dem Weg gegangen. Ich gehöre nicht zu der Gruppe, die ihn anbetet. Eilig beschleunige ich meinen Schritt, um mich seiner Aufmerksamkeit zu entziehen. Finn, der immer noch seine Hand auf meiner Schulter hat, sieht ebenfalls zu Ikaron und rümpft die Nase. Er kann Ikaron nicht leiden, obwohl er oft bei dessen Gruppe dabei ist. "Lass uns ein wenig zu den anderen gehen. Sie sehen sich im Lager um und helfen den älteren Kriegern.", sage ich, um das bedrückende Schweigen zu unterbrechen. Finn nickt. Wir gehen zu einigen Jägern und Kämpfern in unserem Alter. Azura, eine Kämpferin, die ein wenig älter ist als ich, sieht von einem selbst geflochtenen Korb auf, als wir uns ihr nähern. "Das ist schrecklich, das mit Majendron." Ich nicke, bringe jedoch kein Wort heraus. "Finn! Komm hier her und hilf mir!", ertönt die Stimme von Aeron, einem seiner Freunde. "Du auch, Rotschopf!", ergänzt ihn Maire. Trotz der Angst, die sich in mir breit gemacht hat, verdrehe ich die Augen. Ich hasse es, wenn mich jemand so nennt. Und das weiß Maire ganz genau. Trotzdem tut sie alles, um mich zu demütigen und zu ärgern, denn sie ist in Finn verliebt und eifersüchtig auf mich. Finn, der mich, trotz allem, vor Maire in Schutz nimmt, seufzt. "Na komm."Der Tag geht vorbei und mir graut es vor der Nacht. Wir begraben Majendron. Die Stimmung ist mehr als nur angespannt. So etwas habe ich hier noch nie erlebt. Rhun und Thion verlieren kein Wort über ihre Unterhaltung. Als die Sonne dann untergegangen ist, werden die Wachen am Lagereingang verdoppelt. Rhun selbst übernimmt in Wolfsgestalt die erste Wache. Ich verabschiede mich erst spät von Finn und kehre in meine Hütte zurück. Ohne Thion, der noch im Lager nach dem Rechten sieht, wirkt sie kalt und unbewohnt. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Es ist kalt geworden. Der Winter kündigt sich an. Wie jeden Abend kauere ich mich auf meinem Schlafplatz zusammen. Die Angst davor, dass noch mehr Stammesmitglieder heute Nacht in Gefahr schweben könnten, hält mich lange wach.
Erneut stehe ich vor dem See. Mir wird klar, dass ich nun doch endlich eingeschlafen bin. Alles hier sieht genauso aus, wie in meinem letzten Traum. Wie das letzte Mal wage ich einen Blick auf mein Spiegelbild im Wasser. Die Füchsin starrt mich mit ihren grünen Augen aufmerksam an. Sie blinzelt dann, wenn ich es tue. Zögerlich will ich mit meinen Fingerspitzen die Wasseroberfläche berühren. Was hat das zu bedeuten? Noch ehe ich die kühle Oberfläche berühren kann, durchzuckt ein gewaltiger Schmerz meinen gesamten Körper. Ich schreie auf und falle rücklings ins Gras. Der Schmerz lässt für einen Wimpernschlag nach. Dann kommt er wieder zurück. Wie ein Blitz durchzuckt er mich. Ich liege am Boden, kauere mich zusammen. Mein Kopf droht zu bersten. Mir wird übel, heiß und kalt. Ich kann mich nicht bewegen. Kann nicht um Hilfe rufen, nicht schreien, nicht denken. Punkte tanzen vor meinen Augen hin und her und dann wird alles schwarz. Der Schmerz lässt nicht nach. Ich wimmere. Zu mehr bin ich nicht im Stande. In der Dunkelheit spüre ich, wie mein Körper sich, vor Schmerz, immer mehr krümmt. Mein Atem geht flach.
Und plötzlich ist der stechende Schmerz verschwunden. Ich bin wach. Zitternd atme ich durch. Mein Herz rast immer noch. -Was war das?-, schießt es mir durch den Kopf. -Ich dachte ich müsste sterben.- Vorsichtig öffne ich die Augen. Es ist dunkel. Beinahe ungewöhnlich dunkel. Thion ist noch nicht zurück. Ich drehe den Kopf ein wenig und sehe sie. Der Schreck durchfährt mich, wie der Schmerz eben. Direkt unter meinem Kopf, auf den Fellen ruhend, liegen die krallenbesetzten Pfoten der Füchsin. Meine Pfoten!
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Fuchs unter Wölfen
FantasyMitteleuropa im Fünfzehnten Jahrhundert. Die Angst vor dem Teufel, der Hölle, schwarzer Magie und Hexen ist weit verbreitet. Menschen, die angeblich Hexerei ausüben, werden verfolgt, gefoltert und getötet. So auch in einem kleinen Dorf, nahe eines r...