Alleine streife ich eine Weile im Wald umher. Von Zeit zu Zeit höre ich den Schrei einer Eule oder das Trappeln von kleinen Füßen im Unterholz. Am Rande eines kleinen Strauches sehe ich endlich die hellrosa Blüten des Baldrian. Vorsichtig grabe ich ein paar der Pflanzen samt Wurzel aus und stecke sie in einen Wildlederbeutel, der an meinem Gürtel hängt.
Nachdem ich meinen Auftrag erfüllt habe, beschließe ich, Finn noch nicht gleich zu suchen, sondern noch eine Weile jagen zu gehen. Der Herbst ist schon weit fortgeschritten und der Stamm braucht für den Winter sehr viel Nahrung. Eilig hänge ich mir den Bogen um die Schulter und beginne einen Baum zu erklimmen. Von oben habe ich einen besseren Überblick auf den Waldboden. Auf einem der oberen Äste gehe ich in die Hocke. Von dort aus kann man den Berg sehen, der weit hinten, zwischen den Bäumen hervorragt und den wir Nebelberg nennen. Diesen Namen verdankt er den Nebelschwaden, die ihn tagein, tagaus umwabern und bedrohlich erscheinen lassen. Wie jedes Mal, wenn ich den Berg betrachte, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Folnor hat uns viel über ihn erzählt. Folnor ist der Auserwählte unseres Stammes. Der Auserwählte ist der zweite Anführer. Er vertritt den Anführer, wenn dieser krank wird oder einige Tage nicht anwesend ist. Sobald der Anführer stirbt, wird der Auserwählte zum Leiter des Stamms. Zu dieser Ehre zu kommen ist jedoch nicht einfach. Auserwählte werden von dem Anführer gewählt. Meistens ist es einer der loyalsten Stammesmitglieder. Wenn der Anführer die Wahl getroffen hat, muss der Auserwählte sich alleine auf den Weg zum Nebelberg machen und ihn erklimmen. Diese Aufgabe endet oft tödlich, da der Berg von bösem Gesindel bewohnt wird, das einem nach dem Leben trachtet. Gelingt dem Auserwählten der Aufstieg, muss er, auf dem Gipfel des Berges, eine Kräutermischung verbrennen. Somit bittet er die Geister um ihren Segen. Anschließend begibt er sich erneut auf den gefährlichen Weg. Zurück im Lager wird er als Held gefeiert und darf seinen Posten als Auserwählter antreten.Ich habe schon oft darüber nachgedacht und bin zu dem Entschluss gekommen, dass ich niemals eine Auserwählte sein will. Folnors Geschichten haben sich in meinem Kopf festgehangen und lassen mich hin und wieder schlecht träumen.
Endlich erkenne ich unten am Boden eine Gestalt. Mit einer schnellen Bewegung, packe ich den Bogen und lege einen Pfeil ein. Doch es ist nur ein kleiner Kobold, der emsig durch die, am Boden liegenden, Blätter streift. Kobolde sind kleine Wesen, die etwas Naturmagie beherrschen. Sie sehen ein wenig aus wie kleine Menschen, sprechen sogar unsere Sprache, sind jedoch ziemlich hässlich und tragen seltsame Mützen, die sie von den Gnomen unterscheiden. Im Gegensatz zu den Gnomen, sind sie durchaus hilfsbereit, solange man ihnen mit Respekt begegnet. Trotzdem sollte man sie niemals reizen oder ängstigen, denn sie können auch ziemlich boshaft und rachsüchtig werden. Ich sehe dem kleinen Kobold zu, wie er ein paar Haselnüsse aufsammelt, die fast so groß sind, wie seine Hände. Kobolde sind Einzelgänger, weshalb es mich nicht wundert, dass dieser hier alleine unterwegs ist. Auch dies unterscheidet sie von ihren Verwandten, den Gnomen. Nachdem das kleine Wesen genug gesammelt hat, läuft es flink zwischen den Blättern hindurch und auf einen Baum zu. Kaum einen Wimpernschlag später ist es zwischen den Wurzeln verschwunden, wo es wahrscheinlich lebt, denn die Kobolde hausen mit Vorliebe in Bäumen. Nachdem der Kobold verschwunden ist, klettere ich wieder von meinem Baum. Vielleicht sollte ich wirklich losgehen um Finn zu suchen. Es wird langsam dunkel und im Dunklen sollte man niemals alleine im Wald sein. Also mache ich mich auf den Weg.
Es dauert nicht lange, da habe ich meinen besten Freund auch schon gefunden. Er kauert bei ein paar Baldrianpflanzen und gräbt diese geschickt aus. "Finn.", begrüße ich ihn und er dreht sich um. "Avalin." Er nickt mir zu. "Hast du Erfolg gehabt?" "Ja, habe ich. Lass uns jetzt zurückgehen." "Einverstanden." Eilig gräbt er die letzte Pflanze aus und richtet sich auf. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg ins Lager.Bereits sehr früh lege ich mich in meine, mit Fellen ausgestattete, Ecke, in Thions und meiner Hütte und wickle mich in ein paar Hasenfelle. Bald darauf hat mich der Schlaf übermannt.
Mein Traum ist düster. Ich sehe Finn, wie er voller Panik im Wald herumirrt. Verzweifelt versuche ich zu ihm zu laufen. Wovor flieht er? Doch ich kann mich weder bewegen, noch sprechen. Schatten tauchen zwischen den Bäumen auf. Sie kriechen langsam und gefährlich näher. Finn scheint sie zu bemerken, denn seine Augen nehmen einen noch viel panischeren Ausdruck an. Die Schatten bäumen sich auf. Sie nehmen Gestalten an, die sofort wieder verschmelzen. Finn steigert sein Tempo. Obwohl ich meine Beine nicht bewege, folge ich ihm, als würde ein unsichtbares Band mich hinter ihm herzerren. Plötzlich sind leise Stimmen zu hören. Geflüster. Sie stammen von den Schatten. Mit Entsetzen erkenne ich, dass es mittlerweile sehr viele sind. Der Wald wirkt durch ihren düsteren Nebel beinahe schwarz. Finn jagt durchs Unterholz. Sein Atem geht schnell und flach. Äste schlagen ihm ins Gesicht. "Lasst mich in Ruhe!", schreit er immer und immer wieder. "Geht weg! Geht weg!" Und da passiert es. Einer der Schatten streckt eine dürre Hand aus. Seine Finger sind knochig und alles andere als schattenhaft. Sie packen meinen besten Freund an der Schulter. Finn wird mit so einer Wucht zurückgerissen, dass er rücklings gegen einen Baum fliegt. Benommen bleibt er dort liegen. "Finn!", will ich schreien, doch immer noch verlässt kein einziges Wort meinen Mund. Ich kann nur mitansehen, wie die Schatten über ihn herfallen, bis Finn in Dunkelheit gehüllt ist.
Der Wald verschwindet so plötzlich wie er gekommen ist. Ich stehe auf einer Wiese. Von Finn und den Schatten fehlt jede Spur. Vor mir liegt ein See, oder vielmehr ein Tümpel. Mit zitternden Knien trete ich ans Wasser heran. Mein Spiegelbild blickt zu mir auf. Eine Weile mustere ich es. Das Mädchen mit den roten Haaren und den grünen Augen. Das Mädchen, das so anders aussieht. Weshalb? Plötzlich merke ich, wie sich mein Spiegelbild verzerrt. Mir wird mulmig zu mute. Es geht kein Wind. Das Bild auf der Wasseroberfläche verändert sich immer weiter. Ich kann den Blick nicht davon lösen. Meine Haare scheinen zu brennen. Rote Flammen züngeln um mein Gesicht, doch ich spüre keine Hitze. Mein Spiegelbild hat sich nun vollkommen verändert. Ich starre in meine grünen Augen. In die Augen, der Füchsin, die sich auf der Wasseroberfläche spiegelt.
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Fuchs unter Wölfen
FantasíaMitteleuropa im Fünfzehnten Jahrhundert. Die Angst vor dem Teufel, der Hölle, schwarzer Magie und Hexen ist weit verbreitet. Menschen, die angeblich Hexerei ausüben, werden verfolgt, gefoltert und getötet. So auch in einem kleinen Dorf, nahe eines r...