Die Wolken, die sich am Himmel sammeln, sind dick und schwer. Man kann den Regen beinahe riechen. Um uns herum ist es dunkel geworden, obwohl der Tag noch nicht weit fortgeschritten ist. Hoffentlich regnet es nicht zu stark. Das würde uns am Weiterkommen hindern. Finn und Ikaron laufen neben mir her. Seit wir gestern Shirrus Versteck hinter uns gelassen haben, ist es zwischen uns ziemlich still geworden. Jeder scheint über die Worte des Alten nachzudenken und keiner will die anderen dabei unterbrechen.
Finn wirft einen Blick auf die Karte. Shirrus Geschenk. Sie muss ihn viel Geld gekostet haben, denn sie wurde mit unterschiedlichen Farben gezeichnet. Zuhause nutzen wir keine Karten. Das dünne Leder, worauf sie verewigt werden, könnte man für wichtigere Dinge nutzen. Doch ich bin unfassbar dankbar sie dabeizuhaben. Shirru hat viele Anhaltspunkte darauf verzeichnet. So sollte es uns kaum Schwierigkeiten bereiten, den Weg zu finden. Ich frage mich, weshalb er diese Karte anfertigte. Wollte er irgendwann zurückkehren und fürchtete im Alter zu vergessen, wohin er gehen musste? Oder trieb ihn Kitsunes Auftrag dazu? Kitsune... Die Herrin der Füchse. Vor Shirru habe ich noch nie von ihr gehört. Wenn sie so ist wie die Naturgeister, die wir verehren und dazu noch in einer Gestalt auftritt, dann muss sie sehr mächtig sein. Und dennoch ging ihr Vermächtnis unter. Dennoch starben die, die sie beschützen hätte sollen. Es fällt mir schwer, diesem Wesen keinen Groll entgegenzubringen. Doch vielleicht kann Kitsune mir endlich sagen, wer meine Eltern waren. Vielleicht bringt sie Licht in das Dunkel, welches Shirru mit seinen Erzählungen bereits etwas erleuchtet hat.
Langsam fallen die ersten Regentropfen und um uns herum stellt sich das Geräusch von Wasser auf Blätter ein. Ich seufze tief. Das hat mir noch gefehlt. Ich hasse es nass zu werden. Kurz spiele ich mit dem Gedanken mich zu verwandeln, doch die Füchsin weigert sich. Erneut seufze ich. Kurz wandert mein Blick zu meinen beiden Begleitern. Ikaron sieht mich an und lächelt. „Alles in Ordnung?" „Ja.", erwidere ich. „Nur so viel zu Verarbeiten." Sein Lächeln schmälert sich. „Kann ich verstehen. Sogar mir bereitet das alles Kopfschmerzen. Ich will nicht wissen, wie schwer das für dich sein muss. Schließlich bist du direkt betroffen." Seine Worte lassen das alles irgendwie ein wenig erträglicher wirken. Ich will etwas erwidern, doch Finn kommt mir zuvor. „Wir sollten bald einen Fluss erreichen. Den müssen wir überqueren." „Wenn es weiter so regnet, schwimmen wir schon, bevor dem so ist.", scherzt Ikaron. Ich muss lächeln. Finn verzieht nur das Gesicht. „Vielleicht finden wir ja einen Unterschlupf. Die Menschen aus dem Dorf haben uns nicht weiter verfolgt, da können wir uns eine kurze Rast sicher leisten." Obwohl ich so schnell wie möglich mein Ziel erreichen möchte, erleichtert mich die Aussicht rasten zu können. Gestern sind wir gleich nach Shirrus Erzählungen und einer kleinen Mahlzeit aus Dörrfleisch, Pilzen und Beeren wieder aufgebrochen. Seitdem haben wir kaum geschlafen und sind in der Dunkelheit in unseren tierischen Formen weitergelaufen. Das hatte seinen Preis. Ich bin müde, erschöpft und gereizt. Nachdenklich streiche ich mir das rote Haar aus der Stirn. Hoffentlich finde ich in der nächsten Nacht Schlaf. Meine Gedanken kreisen und kreisen. Es würde an ein Wunder grenzen, wenn sie zur Ruhe kämen. Wieder einmal kommen mir Shirrus Erzählungen in den Sinn. Es schien so, als habe allein Kitsunes Name ihn ermutigt, uns so viel zu schildern. Denn nachdem er uns von ihr erzählte, sprudelte es plötzlich nur so aus ihm heraus.
Wer hätte gedacht, dass es andere Stämme in diesem Wald gab? Andere Stämme voll von Gestaltenwandlern. Und dass ich ein Teil davon war. Shirru hat mir mehr über meine Herkunft erzählt, als ich mir hätte wünschen können. Er wurde im selben Stamm geboren. Trotz der langen Zeit, die er bei den Menschen lebte, konnte er mir alles bildlich schildern. Die Bewohner mit ihrem oftmals flammendroten Haar, so wie meines, das Lager, so belebt und voll von Füchsen. Sie waren wie ich, mehr Jäger als Krieger. Wie bei uns trug jedes Mitglied etwas zum Wohlbefinden des Stammes bei. Doch gab es keine Unterteilungen in Kämpfer und Jäger. Alle lebten nach den Gesetzen der Ältesten, die in Verbindung mit ihr standen. Kitsune. Shirru meinte, wir müssten nur den alten Heimatort meines Stammes finden, dann würden wir auf sie treffen. Hoffentlich hat er recht.
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Fuchs unter Wölfen
FantasyMitteleuropa im Fünfzehnten Jahrhundert. Die Angst vor dem Teufel, der Hölle, schwarzer Magie und Hexen ist weit verbreitet. Menschen, die angeblich Hexerei ausüben, werden verfolgt, gefoltert und getötet. So auch in einem kleinen Dorf, nahe eines r...