Wir gehen lange Zeit einfach nur umher, viel zu überwältigt, um uns überhaupt umzuhören. Überall prasseln neue Eindrücke auf uns nieder. Schon bald schmerzt mir der Kopf. Doch dem schenke ich keine Beachtung. Stattdessen sehe ich mich weiter um. So viele Menschen. So viele Laute. So viele unbekannte Dinge. Ich sehe einen Mann, der ein Netz voller Fische trägt. Hier in der Nähe muss ein See oder ein Bach sein. Ja vielleicht sogar ein Fluss. Der köstliche Geruch von Gebratenem steigt mir in die Nase. Mein Magen knurrt. Das letzte Mal habe ich vor unserem Aufbruch am frühen Morgen gegessen. Leider haben wir nichts bei uns, um es gegen Essen zu tauschen. Ein paar Pilze und Beeren vielleicht, aber die werden wohl kaum etwas wert sein. Einige Männer in seltsamer Kleidung bieten Waren an, deren Sinn ich nicht entnehmen kann. Einer von ihnen hält in einem kleinen Käfig sogar einen ziemlich mageren Falken gefangen. Auf dessen Kopf sitzt ein Häubchen, welches die Augen bedeckt. Vermutlich um das arme Tier beim Anblick der vielen Menschen nicht nervös zu machen. In mir keimt Mitleid auf. Am liebsten hätte ich den Falken befreit. „Avalin, sieh mal." Finn stößt mich an. Ich folge seinem Blick. Ein Stück entfernt steht ein Mann, in den Händen ein seltsames Ding aus Holz, dem er mit den Fingern wunderschöne Laute entlockt. Wie macht er das bloß? Neugierig folge ich der Melodie, Finn hinter mir herziehend. Ikaron begleitet uns ebenfalls. Beim Näherkommen erkenne ich, dass der Mann mit den Fingern einer Hand an seltsamen Fäden zupft, die an dem Körper aus Holz befestigt sind. Dieser scheint hohl zu sein. Fasziniert mustere ich den Mann, der gerade eine neue, etwas nachdenkliche Melodie anstimmt. Die Schönheit dieser Klänge lullt mich ein. Für einen Moment schließe ich die Augen, um nur sie wahrzunehmen. Es ist so unglaublich leicht, sich darin zu verlieren. Ich öffne die Augen wieder. „Na Mädchen?" Erschrocken fahre ich herum. Vor mir steht ein Mann in schmutziger Kleidung. Offenbar kommt er gerade vom Feld. Seine Nase ist so krumm, wie bei Jemandem, der gerne einmal einen Schlag darauf bekommt. Vor Überraschung, dass mich jemand angesprochen hat, weiß ich nicht, was ich sagen soll. Aber das scheint den Kerl ganz und gar nicht zu stören. „Du kommst nicht von hier." Er legt den Kopf schräg. „Das wüsste ich sonst. Ich vergesse nämlich keine hübschen Gesichter." Ich starre ihn an, finde einfach keine Worte. „Und diese schönen roten Haare." Er wickelt sich eine Strähne meines Haars um den Finger. Da zucke ich zusammen, weiche zurück und stoße gegen Finn. Auf diese Art und Weise ist mir noch nie jemand entgegengetreten. Der Kerl grinst. „Na, na nicht so schüchtern. Vor mir brauchst du dich nicht zu fürchten." „He, lass sie ihn Ruhe!" Plötzlich baut sich Ikaron neben mir auf. Wo Finn ist, kann ich nicht sehen. Er war doch eben noch hier. Der Fremde mustert Ikaron abschätzig. „Verzieh dich!" „Nein." Ikaron tritt näher an mich heran. „Ich will, dass du sie in Ruhe lässt." Noch immer zu perplex, um etwas zu sagen, sehe ich von einem zum anderen. „Was geht dich das an?!", faucht der Mann. „Weil sie meine Verlobte ist." Mein Herz macht einen Satz und ich blicke zu Ikaron. Dieser legt demonstrativ den Arm um meine Hüfte. Ein Schauer durchläuft mich. Die Augen des Fremden beginnen böse zu funkeln. „Es wäre besser, wenn du jetzt gehst.", versuche ich es bestimmt, aber ein wenig höflicher als Ikaron. „Da hörst du es." Mein Begleiter zieht mich dichter an sich. Ich versuche nicht darauf zu achten, wie nah Ikaron mir ist. Der Fremde mustert uns einige Augenblicke wütend. „Ich bekomme immer, was ich will.", knurrt er dann bedrohlich. Am liebsten hätte ich einen Pfeil aus meinem Köcher gezogen. „Nein, diesmal nicht." Es wundert mich, dass meine Stimme so ruhig klingt. Der Kerl sieht mich an, als hätte ich ihn geschlagen. Vermutlich hat er mit Ikarons Widerspruch und nicht mit dem meinen gerechnet. „Wenn du dich da mal nicht irrst, Hexe." Er packt meinen Arm. Sofort springt Ikaron vor. Seine Faust trifft direkt auf die Nase meines Angreifers. Dieser stolpert zurück, die Hände ans Nasenbein gepresst. Blut quillt zwischen seinen Fingern hervor. Völlig fassungslos sieht er Ikaron an, der mich hinter sich schiebt. „Und jetzt hau ab!" Die Röte schießt dem Kerl ins Gesicht und sofort weiß ich, dass Ikaron einen Fehler begangen hat. „Hexe!", brüllt der Mann, völlig außer sich. „Hier ist eine Hexe mit ihrem Geliebten! Verbrennt sie! Verbrennt sie!" Ikaron will sich auf den Kerl stürzen, doch ich halte ihn am Arm fest. „Nein Ikaron, nicht!" Köpfe fahren herum. Wir werden mit großen Augen angegafft. „Sie wollte mich verzaubern! Verbrennt sie!" „He, was ist hier los?!" Finn schiebt sich durch die Menschenmenge zu uns. Auch er bemerkt die vielen Blicke. Es wird geflüstert. Einige Leute weichen vor uns zurück, während der Mann mit der blutigen Nase noch immer brüllt. Finn, Ikaron und ich stellen uns dicht an dicht. Gerade als ich die Anklage, ich sei eine Hexe zurückweisen will, ertönt ein Ruf. „Das sind Wesen aus dem Wald! Seht euch ihre Kleidung an! Das sind keine Menschen!" Die Meute wird immer unruhiger. Nun ist es an Ikaron, meinen Arm zu packen. „Besser wir hauen ab!", zischt er Finn und mir zu. Finn sieht kurz zu uns. „Die würden doch nicht..." Er bricht ab, als er sieht, dass ein Teil, der um uns Versammelten näherkommt. Ich kann eherne Gegenstände in ihren Händen ausmachen. Einen Stab mit vier Zacken, Beile, ja sogar das ein oder andere Schwert. Gegen so viele bewaffnete Dörfler kommen wir niemals an. Also blicke ich zu meinen beiden Freunden. „Weg hier!" Und so stürmen wir in die Richtung, in welcher uns am wenigsten Menschen im Weg stehen, weiter ins Dorf hinein.
Es dauert einige Augenblicke, bis die Meute reagiert. Rufe und Verwünschungen werden laut. Einige scheinen die Verfolgung aufzunehmen, doch ich wage es nicht, über die Schulter zu blicken. Gemeinsam mit Ikaron und Finn stürme ich voran. Ikaron hat meinen Arm noch immer fest im Griff. Er zerrt mich beinahe hinter sich her. Es kostet mich einiges an Mühe, dabei nicht zu stolpern.
Wir laufen wie die Verrückten, passieren Häuser, Gassen und kleinere Plätze. Die Rufe hinter uns werden nicht leiser. Uns gelingt es nicht, die Verfolger abzuschütteln, aber immerhin haben wir einen kleinen Vorsprung. Hin und wieder rempeln wir überraschte Passanten an, die wie aus dem Nichts vor uns auftauchen. Einmal knalle ich mit meiner Schulter so fest gegen einen Mann, dass sie ein scharfer Schmerz durchzuckt. Aber ich bleibe nicht stehen, renne weiter und weiter. Meine Lunge brennt bereits wie Feuer. Ein Stechen macht sich in meiner Seite bemerkbar. Ein Anfängerfehler. Ich hätte mehr aus- und weniger einatmen sollen.
Das Dorf ist größer als gedacht. Wir sehen kein Ende. Doch je länger wir laufen, desto älter und schäbiger werden die Häuser um uns herum. Eingesunkene Dächer, morsches Holz. Aber im Vorbeilaufen kann ich sie nicht genauer betrachten. Ikaron zerrt mich mit sich, während Fin neben uns herhetzt.
Und dann biegen wir um eine Ecke und sitzen in der Falle. Das Gässchen, welchem wir gefolgt sind, endet in einer Sackgasse. Um uns herum stehen heruntergekommene Häuser. Keines lässt uns passieren, da sie dicht an dicht stehen. Gezwungenermaßen halten wir an. Von weiter hinten hört man die Meute. Es müssen um die Dreißig sein. Meine Seite sticht, meine Lunge brennt, doch das geht in der Panik unter, die in mir aufwallt. „Hier geht's nicht weiter!", keucht Finn. Er wirft den Kopf hin und her, um einen Ausweg zu finden. Doch da ist keiner und zurückzulaufen, oder sich zu verwandeln ist keine Option. „Wir müssen in ein Haus!", ruft Ikaron. Finn sieht ihn entgeistert an. „Bist du verrückt?! Dann sitzen wir erst recht fest!" „Hast du eine bessere Idee?!" „Wenn wir über die Dächer klettern..." „Dafür bleibt uns keine Zeit!", falle ich Finn ins Wort. „Ikaron hat recht! Die Häuser sind unsere einzige Möglichkeit!" Also reiße ich mich von Ikaron los und eile zu einem der naheliegenden Häuser. „Hilfe! Helft uns! Bitte!" „Avalin, ich glaube das ist keine gute Idee!", ruft Finn. Von hinter der Tür kommt keine Antwort. Ich versuche sie zu öffnen, doch anscheinend liegt ein Riegel vor. „Hilfe! Bitte!" Meine Fäuste trommeln gegen das Holz. Kein Lebenszeichen. Also eile ich zu einem anderen Haus. Ikaron versucht sein Glück bei einem weiteren. Doch gerade, als ich gegen die nächste Tür hämmern will, öffnet sich beim Haus rechts von mir eine andere. Ich sehe eine Gestalt hervorlugen. „Kommt hier her!", zischt sie. Finn, Ikaron und ich starren die Gestalt verblüfft an. Doch Zeit, um misstrauisch zu sein, bleibt uns keine, denn die Meute scheint jeden Moment um die nächste Ecke biegen zu können.
Also laufen wir los, zu dem Haus hinüber. Finn verschwindet als Erster darin. Ich folge ihm mit Ikaron. Die Gestalt wartet, bis wir alle durch die Tür gehetzt sind, ehe sie diese schließt. Für einen schrecklichen Moment ist es stockdunkel. Dieses Haus hat keine Fenster. Doch dann beginne ich mit den Augen der Füchsin Umrisse zu erkennen. Finn, Ikaron und unseren geheimnisvollen Retter. Langsam kann ich ihn besser sehen. Es handelt sich um einen alten Mann ohne Haar, aber mit langem weißen Bart. Seine dunklen Augen mustern uns unablässig. Eine ganze Weile ist, außer des flachen Atems meiner Freunde und mir selbst, nichts zu hören. „Wir danken Euch für die Rettung.", beginnt Finn schließlich. „Aber ich denke nicht, dass wir hier sicher sind. Die werden überall nach uns suchen, bis sie uns gefunden haben." Der Greis sieht uns weiterhin an. „Folgt mir.", sagt er dann mit kratziger Stimme und geht los, weiter ins Haus hinein. Ikaron, Finn und ich wechseln einen unsicheren Blick. Aber haben wir eine andere Möglichkeit als diesem Alten zu folgen? Eng beisammen gehen wir hinter ihm her. Vor uns erstreckt sich ein Gang, den wir passieren. Der Mann hinkt so stark, dass Eile unmöglich ist. Am liebsten wäre ich einfach an ihm vorbei- und weitergerannt. Immer wieder werfe ich einen panischen Blick über die Schulter. Aber es bleibt ruhig.
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Fuchs unter Wölfen
FantasiMitteleuropa im Fünfzehnten Jahrhundert. Die Angst vor dem Teufel, der Hölle, schwarzer Magie und Hexen ist weit verbreitet. Menschen, die angeblich Hexerei ausüben, werden verfolgt, gefoltert und getötet. So auch in einem kleinen Dorf, nahe eines r...