Neue Pläne, neue Gefährten

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Diesmal bin ich zu abgelenkt, um die Gestalt wahrzunehmen, die zwischen den Bäumen hervortritt. Finn bleibt wie angewurzelt stehen und ich stoße gegen ihn. „Ihr wollt doch nicht etwa abhauen, während ich Nachtwache halte?" Ich muss das Gesicht nicht erkennen, um zu wissen, wer da vor uns steht. „Ikaron." Finn hört sich wenig erfreut an. Der junge Jäger tritt auf uns zu und nun sehe ich ihn auch ohne Probleme. Er blickt uns vorwurfsvoll an. „Hast du uns etwa belauscht?", knurrt Finn. „Es ist meine Aufgabe, beim Wacheschieben seltsamen Vorkommnissen nachzugehen.", erwidert Ikaron kühl. „Und ihr beide im Wald, mitten in der Nacht, war definitiv ein seltsames Vorkommnis." Zögerlich trete ich neben Finn. „Was willst du Ikaron?" Dessen Blick bleibt an mir hängen, doch er wirkt nicht so durchdringend wie sonst, da die Augen in der Dunkelheit kaum zum Vorschein kommen. Er verschränkt die Arme vor der Brust. „Die Frage ist eher, was ihr wollt.", gibt er zurück. „Das geht dich nichts an.", zischt Finn wütend. „Irrtum. Ich habe Nachtwache und somit eine gewisse Verantwortung, also geht es mich etwas an." Die beiden Jungs bauen sich voreinander auf. „He, lasst das!" Eilig zwänge ich mich zwischen sie. „So kommen wir nicht weiter." Ich sehe zu Ikaron, der mich mustert. Keine Ahnung, wie viel er von Finns und meinem Gespräch mitangehört hat. Am besten ich sage ihm die ganze Wahrheit. Also erzähle ich ihm in knappen Worten von unserem Vorhaben. Ikaron unterbricht mich nicht. „Ihr wollt euch also einfach ins Blaue aufmachen?", fragt er, als ich geendet habe. „Ohne einen Plan oder irgendeinen Anhaltspunkt?" „Ich muss es einfach versuchen?", erwidere ich. „Wärst du an meiner statt, würdest du das verstehen." Daraufhin sagt Ikaron nichts. Noch immer mustert er mich unablässig. Natürlich verstehe ich seine Zweifel. Aber ich kann doch nicht einfach nichts tun. „Das Dorf.", sagt er plötzlich. „Vielleicht findest du ja dort etwas über deine richtige Familie heraus." Perplex sehe ich ihn an. „Das Dorf?" „Na, du weißt schon. Von dem die Älteren immer erzählen." „Bist du verrückt?!", bringt sich nun Finn aufgebracht mit ein. „Wir wollen Antworten finden und uns nicht umbringen lassen!" Ich sehe zwischen den beiden hin und her, viel zu verdutzt, um etwas zu sagen. „Wenn wir dort auffallen oder jemand herausbekommt, was wir sind, enden wir auf dem Scheiterhaufen, so wie viele vor uns!", fährt Finn fort. Wenn er weiter so laut ist, weckt er noch das gesamte Lager. Mein Ellenbogen landet in seiner Seite. Ikaron sieht meinen besten Freund unbeeindruckt an. „Dann fallt nicht auf." Finn lacht wütend und blickt zu mir. „Der Kerl ist irre!" „Vielleicht hat er recht." Die Worte kommen mir einfach so über die Lippen. Finn klappt die Kinnlade herunter. „Wie bitte?!" „Überleg doch mal." Plötzlich packt mich eine unerklärliche Aufregung und ich ergreife Finns Arm. „Das Dorf gibt es schon seit vielen, vielen Jahren. Es leben so viele Menschen dort. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass wir dort jemanden finden, der etwas weiß." „Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass wir gefangengenommen, gefoltert und getötet werden.", gibt Finn kühl zurück. „Du kannst das doch nicht wirklich in Erwägung ziehen Avalin!" „Und was sollen wir sonst tun? Ohne Ziel im Wald herumirren?!" „Vor ein paar Augenblicken wolltest du das doch genauso!" „Wenn ihr weiter so herumstreitet, dann hören euch noch die anderen.", meint Ikaron und liegt damit gar nicht so falsch. Ich versuche mich zusammenzureißen. „Finn, bitte. Lass es uns versuchen." Ikaron sieht zwischen uns beiden hin und her. „Ich weiß nicht Avalin..." Finn tritt von einem Fuß auf den anderen. „Sieht so aus, als würdet ihr Verstärkung gebrauchen können.", meint Ikaron dann plötzlich. Sofort hat er Finns und meine volle Aufmerksamkeit. „Wie... Du meinst...", bringe ich hervor. „Ikaron, das kann ich nicht von dir verlangen." „Das tust du ja auch nicht. Ich biete meine Hilfe freiwillig an." Finn kneift die Augen zusammen. „Weshalb?" Ikaron erwidert seinen Blick und das hat beinahe etwas Herausforderndes. „Weil ich Avalin helfen will. Ich möchte gar nicht wissen, wie es ist, ohne seine richtige Familie aufzuwachsen. Das muss schrecklich sein. Avalin soll wenigstens erfahren, woher sie stammt." Seine Worte lösen etwas in mir aus. Am liebsten hätte ich geweint oder Ikaron umarmt. Die unterschiedlichsten Gefühle wallen in mir auf und ich bin unfähig zu sprechen. Ich kenne Ikaron kaum. Wir sind nicht einmal Freunde. Und trotzdem ist er bereit, sein Leben für mich aufs Spiel zu setzen. Selbst für Finn, der mir so nahesteht, ist dies ein großer Schritt, aber Ikaron... Gibt es wirklich so gute Menschen? „Und das ist alles?", fragt Finn. „Naja." Ikaron senkt den Blick, als wäre ihm mit einem Mal etwas unangenehm. „Um ehrlich zu sein ist da noch was." Finn lacht kühl auf. „Ich wusste es. Und das wäre?" „Ich habe es satt, tagein, tagaus im Lager oder draußen im Wald zu sein. Ein wenig Abwechslung täte mir sicher gut. Etwas Neues sehen. Ein Abenteuer erleben. Ich will nicht mein Leben lang an nur einem Ort bleiben." Nachdenklich mustere ich Ikaron. Daran, dass andere das alltägliche Lagerleben satthaben, habe ich nie einen Gedanken verschwendet. Auf einmal komme ich mir aus irgendeinem Grund egoistisch vor. „Also, was ist?", fragt Ikaron, als weder Finn noch ich antworten. „Nehmt ihr mich mit oder nicht?" Ich beiße mir auf die Lippe. Kann ich wirklich zulassen, dass noch jemand meinetwegen sein Leben riskiert? Andererseits ist Ikaron eine Bereicherung. Er ist einer der besten Jäger unseres Alters, geschickt sowohl in Menschen-, als auch in Wolfsgestalt. Mir kommt unser Kampf gegen den Troll in den Sinn. Ikaron an unserer Seite zu haben, könnte uns vielleicht eines Tages das Leben retten. „Was meinst du?", reißt mich Finn aus meinen Gedanken. „Ich... ich weiß nicht. Ich will nicht, dass du meinetwegen in Gefahr gerätst Ikaron." „Danke, das weiß ich zu schätzen, aber ich kann auf mich aufpassen.", gibt er entschlossen zurück. „Na, wenn das so ist.", meint Finn schulterzuckend. „Ich denke, dass wir zu dritt besser vorankommen könnten." „Vor allem nachdem, was zurzeit hier im Wald passiert." Sofort läuft es mir kalt den Rücken herunter. Wer weiß, was uns alles erwarten wird. Was auch immer Majendron getötet hat, läuft noch immer frei herum. Besser Finn und ich haben jemanden, der uns Rückendeckung gibt. Ich atme tief durch, bevor ich antworte. „Also gut. Du kannst mit uns kommen. Sechs Augen sehen mehr als vier." Ikaron beginnt zu grinsen. „Sehr vernünftig. Wartet hier. Ich hole noch schnell ein paar Sachen aus dem Lager, dann kann es losgehen." „Bist du dir sicher, dass du das willst?", versuche ich ihm ein letztes Mal ins Gewissen zu reden. „Was ist mit deinen Eltern?" „Ach." Ikaron lacht trocken auf. „Die werden kaum merken, dass ich weg bin." Höre ich da Verbitterung? Ich wusste nicht, wie schwierig Ikarons Verhältnis zu seinen Eltern ist. Mir kamen die beiden immer nett und hilfsbereit vor. Finn scheint das nicht wirklich zu beschäftigen. „In Ordnung.", sagt er bloß. „Aber beeil dich." „Keine Sorge, ich bin gleich wieder da." Mit diesen Worten dreht Ikaron sich um. „Und lass dich nicht erwischen!", ruft Finn ihm noch halblaut nach.

Fuchs unter WölfenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt