Das Zwitschern der Vögel, die durch die ersten Sonnenstrahlen wachgeworden sind, weckt mich. Ich öffne die Augen und merke sofort, dass ich friere. Der Regen hat zwar gestern Abend nachgelassen, dennoch ist alles um mich herum nass. So auch meine Kleidung. Finn und Ikaron schlafen neben mir. Wegen der Kälte haben wir uns dicht zusammengedrängt, doch trotzdem klappere ich mit den Zähnen. Der umgestürzte Baum, hinter welchem wir Schutz gesucht haben, konnte uns wenigstens den unangenehmen Wind vom Leib halten. Das war aber auch schon alles.
Langsam setze ich mich auf. Meine Gelenke sind steif von der Kälte. Noch immer kleben mir die Kleider am Leib. Aber es macht ohnehin keinen Sinn sie jetzt zu trocknen. Wir müssen heute durch den Fluss waten, da wäre alle Mühe umsonst. Also mache ich gute Miene zum bösen Spiel, stehe auf und durchforste meine Vorräte. Während die beiden anderen noch schlafen, bereite ich für uns eine kleine Stärkung zu. Anschließend gehe ich zum Fluss, um unsere Wasservorräte aufzufüllen. Zwar sind die Beutel noch recht voll, doch man weiß ja nie, was uns bevorsteht. Ich möchte vorbereitet sein.
Meine beiden Freunde liegen noch genauso da, wie ich sie zurückgelassen habe, als ich erneut unseren Unterschlupf aufsuche. Ein leichtes Lächeln umspielt meine Lippen. Im Schlaf wirken sie so friedlich. Doch kaum habe ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, verändern sich Finns Gesichtszüge. Er runzelt die Stirn und presst die Lippen aufeinander. Nun wirkt er überhaupt nicht mehr friedlich. „... noch nicht so weit.", bringt er hervor und klingt panisch. Er beginnt sich unruhig zu bewegen, sich zu verkrampfen, als hätte er Schmerzen. „Nein! Nein!" Das ist genug. Eilig knie ich mich zu ihm hinunter und rüttle ihn an der Schulter. „Finn! Finn, wach auf! Du hast einen Albtraum!" Ein Schauer durchläuft den Körper meines Freundes. Für einen Augenblick erfasst mich eine unerklärliche Angst davor, dass er nicht aufwacht, doch dann öffnet er zum Glück die Augen. Dabei keucht er wie ein Ertrinkender und setzt sich so schnell auf, dass wir uns beinahe die Köpfe stoßen. Erschrocken weiche ich zurück, wobei ich das Gleichgewicht verliere und mit dem Hintern im Gras lande. „Finn! Alles in Ordnung?" Mein bester Freund dreht den Kopf. Einen Moment lang scheint er durch mich hindurchzustarren, ehe sich sein Blick klärt. „Was... was ist passiert?" „Du hast schlecht geträumt. Muss schlimm gewesen sein. Kannst du dich noch erinnern?" Kurz zögert Finn. Er ist beunruhigend blass. Vermutlich friert er ebenso stark wie ich. „Nein.", sagt er schließlich. „Ist alles weg. Danke, dass du mich geweckt hast, Avalin." Er ringt sich ein leichtes Lächeln ab. „Ist doch nicht der Rede wert.", erwidere ich und lege sanft eine Hand auf seinen Arm. „Wie geht es dir?" „Nun, mir ist kalt.", sagt er und scheint die Fassung zurückzuerlangen. „Dann geht's dir so wie mir. Der Gedanke, dass wir heute noch durch den Fluss müssen, macht es nicht besser." Bei meinen Worten erschaudert Finn sichtlich. „Verdammt, daran hatte ich für einen Moment nicht mehr gedacht." Er blickt zu Ikaron, der noch immer seelenruhig schläft. „Sollen wir ihn wecken?" „Nutzen wir den Tag so gut es geht.", antworte ich und gehe auf Ikaron zu. Finn nickt. „In Ordnung."
Nachdem Ikaron wach ist, machen wir uns über unsere Vorräte her und brechen anschließend wieder auf. Jetzt müssen wir erstmal eine Stelle finden, an welcher wir den Fluss überqueren können.
Eine ganze Weile gehen wir am Fluss entlang und starren in die trübe Brühe, die in beängstigender Geschwindigkeit an uns vorüberrauscht. An manchen Stellen wirkt es, als würde das Wasser brodeln. Kleine Bläschen aus Schaum bilden sich an der Oberfläche und tanzen umher. Dennoch geben wir unsere Suche nicht auf. Was bleibt uns auch anderes übrig?
„Hier!" Finns Ruf übertönt das Tosen des Flusses. Ikaron und ich fahren herum. Mein bester Freund steht am Ufer und deutet auf irgendetwas im Wasser. Ich trete zu ihm, gefolgt von Ikaron. „Da drüben sind Felsen!", ruft Finn. „Wenn wir sie erreichen, können wir das tiefe Stück umgehen, indem wir zum anderen Ufer klettern!" Ich mustere besagte Felsen und meine Hoffnung keimt wieder auf. „Du könntest recht haben. Die Felsen sind sicher verdammt rutschig, aber das ist allemal besser, als durch den gesamten Fluss zu waten!" Aufgeregt werfe ich Ikaron einen Blick zu. Dieser nickt langsam. „Das könnten wir schaffen!" Er sieht zu mir und für einen winzigen Augenblick starren wir uns an. Ein seltsamer Schauer durchfährt meinen Körper. Sofort wende ich den Blick ab, völlig überrascht von meiner eigenen Reaktion.
Finn sieht sich suchend um. Aus dem Gebüsch zieht er einen Stock hervor, ungefähr so groß wie er selbst und so dick wie sein Unterarm. „Lasst mich flussaufwärts gehen und ihr geht neben mir her. Wir haken uns beieinander ein." „Gut." Ikaron tritt zu ihm. „Avalin, dich nehmen wir in die Mitte. Du bist am kleinsten und leichtesten." Ich widerspreche nicht. Finn und Ikaron halten mir ihre Arme hin. Eilig sichere ich mein weniges Hab und Gut. Dann hake ich mich bei den beiden ein. Zögerlich treten wir in den Fluss.
Als das kalte Wasser meine Schuhe durchnässt und meine Knöchel umspült, zucke ich zusammen. Finn zieht mich mit sich. Wie besprochen geht er flussaufwärts, während wir uns angestrengt neben ihm halten. Mit dem Stock tastet er den Boden vor uns ab, um Unebenheiten rechtzeitig zu erkennen. Je weiter wir kommen, desto stärker wird die Strömung. Unwillkürlich kralle ich mich an Finn und Ikaron fest. Unter keinen Umständen darf ich stürzen und fallen.
Das Wasser steigt immer weiter an. Wir kommen nur langsam voran. Quälend langsam. Finn stößt mit dem Stock unter Wasser gegen etwas, vermutlich einen großen Stein und wir machen einen mühsamen Bogen darum. Ikaron blickt für einen Moment in meine Richtung. „Keine Sorge.", sagt er, obwohl er ziemlich angespannt klingt. „Wir schaffen das schon. Es ist ja nicht weit." Ich schenke ihm ein kurzes, dankbares Lächeln, als ich mit dem Fuß gegen etwas stoße. Beinahe hätte ich dabei das Gleichgewicht verloren. Zum Glück halten mich die beiden anderen entschlossen fest. Endlich finde ich wieder sicheren Halt unter den Füßen. „Pass auf wo du hintrittst.", schärft Finn mir ein. Ich will ihm gerade an den Kopf werfen, dass dies viel einfacher wäre, wenn ich auch sehen könnte, wohin ich trete, da passiert es erneut. Mein Fuß verfängt sich in etwas, von dem ich nicht erkennen kann, was es ist. Ich stolpere, kann mich diesmal nicht mehr fangen. Ein Keuchen entfährt mir, da empfängt mich auch schon das hüfthohe, reißende Wasser. „Avalin!" rufen Finn und Ikaron entsetzt. Sie halten mich weiterhin fest, doch ich komme wegen der Strömung und meines Fußes, der sich nicht mehr aus diesem Etwas lösen will, einfach nicht mehr auf die Beine. Ich reiße den Kopf hoch, rudere mit den Armen. Doch dabei löse ich mich aus den Griffen der anderen, die verzweifelt versuchen, mich nicht loszulassen. Etwas reißt an meinem Knöchel. Mein Kopf taucht unter Wasser. Plötzlich spüre ich die Hände der anderen nicht mehr. Die Panik übermannt mich. Das Wasser reißt mich erbarmungslos mit sich, als wäre ich eine Puppe aus Stroh, die ich als Kind so gerne gestaltet habe. Ich habe jegliche Kontrolle verloren. Festhalten? Unmöglich. Orientieren? Aussichtslos. Es gibt nichts als Wasser und Fels. Ich versuche an die Oberfläche zu gelangen. Hin und wieder gelingt es mir. Doch mehr als nach Luft schnappen kann ich nicht, dann brechen schon wieder kleine Wellen über meinem Kopf zusammen. Das Wasser ist überall. In meinen Ohren, meinen Augen, meiner Nase, in meinem Mund. Ich kann nichts sehen. Ich kann nichts hören, außer das Rauschen und Blubbern um mich herum. Und dann plötzlich scheint die Welt stillzustehen.
DU LIEST GERADE
Fuchs unter Wölfen
FantasíaMitteleuropa im Fünfzehnten Jahrhundert. Die Angst vor dem Teufel, der Hölle, schwarzer Magie und Hexen ist weit verbreitet. Menschen, die angeblich Hexerei ausüben, werden verfolgt, gefoltert und getötet. So auch in einem kleinen Dorf, nahe eines r...