1. Anklage

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"Es sieht sehr schlecht für sie aus Mr. Castiel." Der Mann mittleren Alters guckt auf seine Akte, während seine Augen und seine gesamte Mimik nach schlechten Nachrichten aussehen. Aber was habe ich auch anderes erwartet. " -Die meisten Beweise deuten auf sie hin. Kein dichtes Alibi, Aussagen und Zeugen die gegen sie stimmen, ihre Fingerabdrücke auf der Leiche und dem gesamten Tatort. In meiner gesamten Karriere als Rechtsverteidiger ist mir noch nie ein solch schwieriger Fall begegnet".

Mitleidig sieht er mich an. Das wird mir kaum helfen. Jeder Muskel meines Körpers ist angespannt, während ich auf seinem Stuhl im Büro sitze. Am liebsten würde ich alles zu Kleinholz verarbeiten. Allerdings löst das meine Probleme auch nicht.

"Mr. Wilder kann ich noch irgendwas tun, dass mich entlastet oder mir auch nur im Geringsten hilft?" Frage ich meinen Anwalt schon fast verzweifelt.

Ich benehme mich erbärmlich und am liebsten würde ich Freddy seine Visage polieren, doch das würde sich wahrscheinlich eher kontraproduktiv auf meinen Prozess auswirken. Obwohl ich bezweifle, dass ich noch tiefer in die Scheiße rutschen kann.

"Im Moment leider nicht. Ich empfehle Ihnen, nach Hause zu fahren und sich ruhig zu verhalten. Sie wissen, es sieht nicht gut aus, aber ich tue, was ich kann".

Damit reiche ich ihm die Hand und gehe aus seinem Büro zurück zu meinem Auto. Nur noch der alte Corsa meines Verteidigers steht neben meinem Wagen. Die Autotür fällt hinter mir zu, doch anstatt loszufahren, bleibe ich kurz ruhig sitzen.

Die Straßenlichter ziehen an mir vorbei. Irgendwelche Nachrichten laufen im Radio, doch meine Gedanken sind ganz wo anders. Vor meiner Wohnung fahre ich den Wagen in die Parkgarage. Der Aufzug hält im vierten Stock und die Türen öffnen sich. Ich schließe die Wohnungstür auf und werfe den Schlüssel auf die Kommode.

Der Tag war anstrengend genug und morgen geht es erst richtig los. Mein erstes Gerichtsverfahren.

Ohne weitere Umwege gehe ich ins Bett. Schlaf ist allerdings kaum drinnen. Mich plagen die Bilder, die erscheinen, wenn ich die Augen schließe. Als wenn sie mich jedes Mal ein Stück tiefer in den Abgrund ziehen. Meine Schwester tot auf dem Boden eines Puffs. Eine riesige Blutlache unter ihr. Kein Ausdruck in ihren braunen Augen. Die Haare total wirr verteilt. Meine Hände, die mit ihrem Blut bedeckt sind. Wie ich versuche, sie verzweifelt wieder zu beleben, da ich nicht wahrhaben will, dass sie tot ist. Erschossen. Direkt ins Herz. Kein Anblick, den man sich wünscht. Die Zeit danach war hart.

Mittlerweile ist es schon ganze drei Monate her. In der gleichen Nacht, als ich sie gefunden habe, musste ich es unseren Eltern beibringen. Sie haben erst geschwiegen und dann gefragt, was passiert ist. Das war auch der Moment, in dem sie erfahren haben, dass ihre Tochter schon seit zwei Jahren nicht mehr Psychologie studiert, sondern als Prostituierte im Bordell arbeitet. Ihre Reaktion war das letzte. Statt zu trauern und Rachels Tod zu bedauern, haben sie empört darüber geredet, dass meine Schwester eine Nutte ist. Ihre eigene Tochter schläft freiwillig für Geld mit fremden Leuten.

Ich wusste es schon lange. Nachdem Rachel hierhergezogen war, um an der Universität Psychologie zu studieren, war ich gerade im letzten Jahr meines Studiums. Ich hatte beschlossen, danach ebenfalls hier her zu kommen, damit Rachel nicht so allein ist. Ein halbes Jahr später hat sie mir erzählt, dass sie seit zwei Wochen im La Désir arbeitet. Wie wahrscheinlich jeder Bruder war ich überrascht aber es war ihre Entscheidung und solange es ihr damit gut geht, war es mir egal. Allerdings war es klar, dass unsere Eltern kein Wort davon erfahren dürften. Sie würden Rachel verstoßen. Und anstatt nun zu trauern war der erste Satz, den sie sagten 'Kein Wunder, das so etwas in solch einer Branche passiert! Unsere eigene Tochter eine Nutte!'. Danach habe ich sofort aufgelegt. Ich habe es bis heute nicht verstanden. Ihre Tochter ist erschossen worden und das Einzige, was sie können, ist zu sagen, dass das ja kein Wunder ist, wenn sie in ihren Worten eine Nutte ist, die für Geld alles macht. Seitdem habe ich keinen Kontakt mehr zu ihnen gehabt. Vielleicht auch ganz gut so.

Gegen 23 Uhr kommt Ben noch einmal vorbei. Mit einem 6er Bier steht er vor meiner Tür. Genau das Richtige.

Wir setzen uns auf mein Sofa, während im Hintergrund der Fernseher läuft. Irgendeine Nachtreportage. Ben reicht mir ein geöffnetes Bier und wir stoßen schweigend an. Ich lehne mich zurück und gucke zu meinem besten Kumpel.

"Morgen ist der erste Prozess", kommt es trocken über meine Lippen.

"Wie viele werden es sein?" Fragt er und beugt sich vor, um zu trinken. Ich tue es ihm gleich.

"Ich weiß es nicht. Vielleicht verknacken sie mich schon morgen oder vielleicht erst nach dem 3 oder 6 Prozess. Mal sehen".

"Klingt übel Bruder" er seufzt und guckt unbeteiligt zu den Nachrichten.

"Ich weiß", sage ich nur und mache es ihm gleich.

Wir mögen vielleicht nicht viel reden, aber er ist da und das weiß ich zu schätzen. Er war die ganze Zeit für mich da. In der Nacht, als es passiert ist, wurde ich erst einmal festgenommen. Ben kam und hat mich am frühen Morgen abgeholt, als ich gehen durfte. Am gleichen Tag haben wir uns erst bei ihm in der Wohnung zugedröhnt und dann in einer Bar betrunken. Scheiß Art mit Kummer umzugehen, aber besser als allein in meiner Wohnung zu sitzen und jeden Moment zu überlegen, was ich jetzt mache. Nicht so einfach als Mordverdächtiger.

Ben war sich sofort sicher, dass ich es nicht war. Er kannte das Verhältnis zwischen Rachel und mir. Sie war meine kleine Schwester. Ich hätte alles für sie getan.

Wie so ein Dreck passieren konnte, ist mir bis heute ein Rätsel. Nicht innerhalb dieser drei Monate ist mir eine Antwort darauf eingefallen. Ich weiß selber nicht, was ich von dem Prozess morgen erwartet soll. Freddy wird gegen mich Aussagen, meine Eltern werden sich über Rachel hermachen, selbst wenn sie tot ist und irgendeine Zeugin soll alles gesehen haben. Wie ich meine Schwester nach einem Streit abgeknallt habe. Keine Ahnung, warum sie lügt.

Doch jeder Einzelne wird es bereuen, mir die Schuld zu geben und Freddy wird für den Rest seines erbärmlichen Dreckslebens hinter Gittern verbringen. Und diese Zeugin wird mich auch noch kennenlernen.

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