4. Ablenkung

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Nach der Verhandlung bin ich schnellstmöglich nach Hause gefahren. Die ganze Zeit über denke ich darüber nach, was ich machen kann. Mein Anwalt sagt, ich soll die Füße stillhalten, doch am liebsten würde ich in diesem Puff alles auf den Kopf stellen. Die Waffe finden oder irgendetwas, dass mir hilft. Den Grund, wieso das alles passiert ist.

Warum lügt Amaya? Ich weiß von den Drogengeschäften. Allerdings auch nur oberflächlich das dort welche stattfinden und Rachel involviert war. Vielleicht hat Freddy seine Barkeeperin damit erpresst. Aber wenn es rauskommen würde, wäre auch er gefickt und das wird er sich selber wohl kaum antun wollen.

Ich muss aufhören, mir diese Fragen zu stellen, denn nur durchs Denken komme ich auch nicht dahinter. Allerdings muss ich mich irgendwie abregen.

Ich rufe Ben an und wir verabreden uns. Er holt mich ab und wir stehen wenig später vor dem Fitnesscenter, das seinen Eltern gehört.

In den Umkleiden schließe ich meine Kleidung und sonstiges Zeug in einen der Spinde. Um diese Uhrzeit ist kaum einer hier, was ganz gut ist. Keine nervigen Leute.

Ich schnappe mir die Handschuhe und Wärme mich erst einmal auf. Dann geht es an die Boxsäcke. Irgendwann bin ich so weit, dass ich Freddys Gesicht auf den blauen Stoff projiziere und wie wild darauf einschlage. Allerdings verlässt mich irgendwann die Kraft in den Armen und ich lasse vom Boxsack ab. Ben und ich gehen noch etwas zu den Hanteln, ehe wir zu einem Imbiss fahren und das Training rückgängig machen.

Reden tun wir kaum abgesehen davon, dass ich ihm vom Prozess berichtet habe. Er weiß das das nicht mein liebstes Thema ist, deshalb wartet er, bis ich es anspreche. Auf dem Weg nach Hause erzählt er mir noch von seinem Date, das er vor zwei Tagen hatte. Eine blonde Journalistin, die ihm den Kopf verdreht hat. Sie treffen sich in drei Tagen am Freitag wieder.

Ben und ich haben einen vollkommen unterschiedlichen Typ. Er bevorzugt blonde ich braune Haare, er liebt blaue Augen, während ich grüne oder braune schöner finde, er ist eher so der Brüstetyp und ich der Arschtyp. Da kommen wir uns also kaum in die Quere.

Vor meiner Wohnung steige ich aus, suche den Schlüssel und schließe die Tür auf. Ben fährt selber wieder los, während ich die Treppen hinauflaufe. Erst einmal was zu essen. Tiefkühlpizza aus dem Ofen klingt perfekt. Heute habe ich wirklich keine Motivation mehr zu kochen.

Das andere Problem, welches ich abgesehen von dem offensichtlichen habe, ist, dass ich suspendiert wurde, solange der Prozess stattfindet und ich unschuldig bin. Bedeutet also ich darf nicht zur Arbeit. Tagsüber sitze ich entweder nur zu Hause umher, gucke Fernseher, fahre sinnlos einkaufen, in der Gegend umher oder zu meinem Anwalt und ansonsten schlafe ich. Ab und zu gehe ich mit Ben wohin. Im Moment muss sein Lebensinhalt für uns beide genügen.

Leider ist das relativ öde und eintönig, aber solange mein Prozess läuft, wird sich nichts ändern. Die meisten meiner ehemaligen Freunde haben sich abgewandt als sie die Geschichte erfahren haben. Für sie war es eindeutig, dass Rachel meinetwegen tot ist. Sie haben mir kein Funken Glauben geschenkt. Immerhin ist Ben geblieben. Das schätze ich sehr. Wir kennen uns seit Jahren.

Er hat in meiner ehemaligen Wohnung gegenüber gewohnt, als ich gerade hierhergezogen war. Wir haben uns sofort gut verstanden und seitdem sind wir Freunde. Er kannte Rachel nur flüchtig, immerhin musste sie abends immer arbeiten und hatte tagsüber frei, während es bei uns genau andersherum ist.

Den Rest der Woche verbringe ich genauso wie die letzten Tage. Ab und zu treffe ich mich mit Ben oder Mr. Wilder aber ansonsten. Auch in meinem Prozess kann ich gerade nicht viel unternehmen. Ich habe keine Idee oder eine Spur, was passiert ist. Am liebsten würde ich Amaya noch einmal abfangen, aber abgesehen von ihrer Arbeitsstelle weiß ich nichts über sie. Und vor dem La Désir auftauchen ist wahrscheinlich keine gute Idee. Weder ich bin gut auf Freddy und sein Etablissement zu sprechen als auch er gegenüber mir. Wahrscheinlich würden sie mich dort nicht einmal hereinlassen.

Bei der nächsten Verhandlung werde ich mich nicht so einfach von Amaya abwimmeln lassen, beziehungsweise mich ignorieren lassen. Wenn Sie nicht schuld sein will, dass ich in den Knast gehe, soll sie gefälligst die Wahrheit herausrücken. Irgendwann muss sie die Wahrheit sagen. Spätestens wenn ich meine Unschuld beweisen kann und Freddy hinter Gittern landet.

Am Donnerstagnachmittag besuche ich den örtlichen Friedhof. Viele Blumen liegen an Rachels Grab. Auch meine weißen Rosen, die ich ihr mitgebracht habe. Heute ist es genau vier Monate her. Die Zeit fühlt sich seltsam an. Es scheint mir, als wenn es gestern wäre, dass ich sie leblos auf dem Boden des Bordells gefunden hätte. So zerbrechlich.

Ob ich es will oder nicht, einige Tränen verlassen meine Augen. Ich versuche sie zu unterdrücken und wische sie umgehend weg, doch sie kommen immer wieder. Unsere Eltern waren bisher noch kein einziges Mal hier. Sie sind so verbissen darin, als was Rachel gearbeitet hat. Auch mich haben sie seitdem weder angerufen noch besucht. Ihrer Meinung nach bin ich nicht besser als Rachel, weil ich ihren Lebensstil geduldet habe und ihr geholfen habe, alles vor unseren Eltern zu verstecken.

Ich weiß nicht, ob sie mich für schuldig halten, aber sie geben mir definitiv die Schuld an Rachels Tod. Ich hätte sie abhalten müssen, ihr Leben so wegzuwerfen und ihr helfen müssen. Ich habe sie vernachlässigt und nicht auf sie achtgegeben. Es mag sein das, wenn sie nicht in diesem Geschäft tätig gewesen wäre, jetzt noch leben würde. Aber ändern tut das nun auch nichts mehr. Sie liegt hier vor mir mehrere Meter unter der Erde in einem Sarg. Kein aber und wenn wird sie zurückholen und das müssen auch unsere Eltern verstehen. Ob sie es nun wollen oder nicht.

La DésirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt