Cubus - Dunkles Verlangen

Kapitel 4 - Zweifel

Fünf Jahre waren seit der ominösen Mordserie vergangen. Seth wurde für tot erklärt, obwohl seine Leiche niemals gefunden wurde. Die anschließenden Befragungen waren trotz Nathans Einsatz mühselig und langwierig. Die Beamten fanden jedoch äußerst belastende Beweise in der Hütte. Unter anderem DNA-Spuren der Frauen und ein Tagebuch, in welchem Seth das Verlangen beschrieb, das ihn antrieb. Jedes Kapitel, also jede junge Frau, die er tötete, verlief in etwa gleich. Und dank dieser Aufzeichnungen ergab endlich alles Sinn. Zumindest das Meiste. Er gab sich vor den jungen Frauen als Dr. Green aus und bezirzte sie mit allerlei erfundenen Geschichten. Sein Ruhm als Schriftsteller schien ihm keine Selbstsicherheit mehr zu geben, weshalb er auf den seines Bruders zurückgriff. Dann, im Laufe des Kontaktes, begann er von dunklen Begierden und einer teuflischen Macht zu schreiben, die sich in seinem Innersten ausbreitete. An den Tagen, nachdem er ein Mädchen getötet hatte, gab es keine Einträge. Oder besser gesagt, es gab sie, aber die besagten Seiten fehlten. Hatte er sie selbst herausgerissen?Michael bekam auch mit der Hilfe seines FBI-Kontaktes nur eine Kopie der Seiten, doch die mysteriösen Umstände ließen ihn monatelang nicht los. Über ein Jahr lang verfolgte er jede noch so kleine Spur, die sein Bruder hinterlassen hatte. Erfolglos... Diese neurotische Schnitzeljagd trieb ihn an seine Grenzen. Er kündigte seine Anstellung an der Universität und praktizierte auch als Arzt nur noch sehr selten. Seine gesamte Existenz richtete sich nach dem Finden der Wahrheit. Ständig hatte er die abscheuliche Gestalt vor seinem inneren Auge und mit jedem Tag, der verging, war er sich weniger sicher, ob er sich all dies nur eingebildet hatte, oder ob es tatsächlich solch eine Kreatur gegeben hatte.

Er trank, fing nach zehn Jahren wieder an zu rauchen und erlebte den Tiefpunkt seines Lebens. Sarah, seine ehemalige Assistentin, besuchte ihn oft und versuchte immer wieder, ihn von den Schatten zu befreien, die ihn quälten. Vergebens. Nach Monaten verlor auch sie die Hoffnung. Doch dann trat ein Licht in Michaels Leben. Als er gezwungener Maßen Sarahs Hochzeit besuchte, sie heiratete einen Programmierer aus Utah, lernte er ihre jüngere Schwester kennen. Vanessa war ehrgeizig, sportlich und verstand es noch besser als ihre ältere Schwester, Michaels Gemüt zu beruhigen. Die damals 26-jährige Sportlehrerin interessierte sich auch für Medizin und ihre schiere Neugier und ständige fachliche Diskussionen erweckten schließlich Michaels Sympathie. Mit jeder Stunde, die er mit Vanessa verbrachte, sank sein Interesse an dem alten Fall. Irgendwann war der plagende Geist namens Seth nur mehr sein kleiner Zwillingsbruder. Drei Jahre später heirateten Michael und Vanessa und er begann wieder damit, einer der besten Ärzte der Vereinigten Staaten zu sein.

Michael Green hatte dieses düstere Kapitel ad acta gelegt. Bis zu jener Nacht indem er nach Jahren den Namen seines Bruders hörte: „Ich würde gerne mit Mr. Norbert Carens sprechen. Ist er vielleicht zufällig da?"

Der junge Mann am anderen Ende der Leitung war offensichtlich Franzose. Seine Aussprache war furchtbar. Norbert Carens war einer der Künstlernamen, die Michaels Bruder früher manchmal benutzte. Carens war der Mädchenname ihrer Mutter und Norbert der Name ihres Grundschullehrers, der immer Großes in ihm gesehen hatte. Nur einer von zig Synonymen und vielleicht war es dummer Zufall, dass der Franzose anrief. Vielleicht wusste er nicht, dass Norbert Carens und Seth Green, der verstorbene Autor, ein und dieselbe Person waren, und vielleicht hatte er nur die Zeitverschiebung zwischen Europa und der Westküste der Vereinigten Staaten vergessen.

„Vielleicht", flüsterte Michael in die Nacht, während sein Blick an den Sternenhimmel geheftet war. Doch für seinen Geschmack waren das zu viele vielleicht. Auch im OP hielt er nicht viel vom Zufall. Widerwillig gab er die von vorneweg verschwindend geringe Wahrscheinlichkeit auf, dass ein Fremder ihn von der anderen Seite der Welt ganz zufällig anrief und den Künstlernamen seines Bruders benutzte. Augenblicklich kehrten all die schlimmen Erinnerungen zurück, die Michael erfolgreich hatte verdrängen können.