Vanessa saß kauernd am Ledersofa neben dem Küchentisch. Mit skeptischem Blick nippte sie vorsichtig am heißen Kaffee. Sie sah genauso aus wie früher, als Michael ihr etwa die Vorgehensweise einer Tumoroperation erklärt hatte. Dabei spielte sie immer mit ihren Zehen und rieb sie gegeneinander. Michael hingegen brütete wie eh und je über seinen Unterlagen. Er hatte gerade den Anfang des bordeauxroten Tagebuches in Angriff genommen, das angeblich seinem eigentlich verstorbenen Bruder gehören sollte.
‚Auch die Handschrift könnte passen', dachte er. Zwar erkannte er die Hand seines Bruders nicht gleich in den Zeilen, sie waren teils verwackelt und schludrig hingekritzelt, doch passten allgemeine Schreibweise und auch die Wortwahl in etwa zu Seth.Der erste Eintrag war bereits über zwei Jahre alt und eigentlich eher unspektakulär. Allem Anschein nach wurde es irgendwo in England verfasst, da sich der Verfasser über das schlechte britische Wetter beschwerte. Spannend wurde es jedoch erst weiter unten im Text.‚Es war, als würde ich aus einem langen Traum erwachen. Wie durch einen festen Schlummer gefangen, begann ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder meinen Körper zu spüren. Mir meiner Umwelt bewusst zu werden. Was ist nur in all der Zeit geschehen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, weshalb ich hier bin und was ich nun tun soll.'Dann endete der Eintrag plötzlich abrupt und auf der Seite danach schienen bereits einige Tag vergangen zu sein.
‚Heute habe ich den ganzen Tag am Meer verbracht. Es war kalt, doch das störte mich nicht. Es war beruhigend, einfach nur auf die weite See zu starren und die Melodie des Meeres in meine Seele zu lassen. Vielleicht habe ich den Dämon endlich besiegt? Vielleicht kann ich nun frei sein? Das wäre schön...'„Findest du darin nun etwas Liebling?", erklang die Stimme von Michaels Frau.Er schüttelte den Kopf und musste seinen Geist erst einmal aus dem Buch ziehen. Der Doktor blinzelte dreimal und blickte dann entgeistert zu seiner Frau hinüber: „Es. Es ist... interessant. Auf jeden Fall..."„Und stammen diese Einträge von deinem Bruder?"„Nun. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber es deutet zumindest alles darauf hin. Zudem sprechen auch die Indizien dafür. Seth, äh ich meine, der Schreiber dieser Zeilen schien emotional sehr aufgewühlt zu sein und hat nach Frieden gesucht. Das klingt zwar nicht unbedingt nach meinem Bruder, aber dennoch... Irgendwie spüre ich in meinem Herzen, dass dies hier von Seth stammt. Um ganz sicher zu gehen, muss ich jedoch alle Einträge lesen. Von vorne bis hinten. Name steht zumindest keiner drin. Das hab ich schon überprüft. Vielleicht finden sich aber weitere Hinweise darin."Die Ader auf Michaels Stirn zeichnete sich wieder ab. Ein physisches Zeichen seiner mentalen Anspannung. Vanessa stellte ihre Tasse auf den Tisch und stand auf. Mit ihren rehbraunen Augen blickte sie Michael direkt an: „Aber übertreib's nicht. Diese Sache nimmt dich ziemlich mit und ich will nicht, dass es dir so ergeht wie damals, als wir uns kennengelernt haben."„Egal, was mit mir passiert. Du wirst immer mein Anker sein. Mein Rettungssei,l das mich zurück in die Realität zieht"
Michael umfasste ihr Armgelenk und zog sie an sich heran. Er krallte seine Finger in ihr lockiges braunes Haar und küsste sie innig.
„Und ich bin ja nicht die Einzige, die für dich da ist", sprach sie sanft und mit warmer Stimme. Ihre Gesichter waren zusammen in einer Atmosphäre. Sie legte ihre rechte Hand auf den Bauch.Michael lächelte nur zufrieden: „Keine Sorge Vanessa. Diesmal wird mich nichts in die Dunkelheit ziehen. Dafür gibt es zu viel Licht in meinem Leben."
Eine halbe Stunde später verließ Vanessa das Haus, sie musste an diesem Mittwoch arbeiten und unterrichtete zwei Klassen in Sport und drei in Naturkunde. Michael hatte hingegen einen freien Tag. Die Klinik war derzeit gut besetzt und an der Universität herrschte noch zwei Wochen lang die lehrveranstaltungsfreie Zeit. Somit konnte er sich voll und ganz auf das angebliche Tagebuch seines Bruders konzentrieren. Immer noch war sein Geist förmlich an die Seiten geheftet. Er las jede Zeile, jedes Wort und jeden Buchstaben mit höchster geistiger Konzentration. Immer wieder berichtete der Schreiber des Textes von „Rückfällen". Dunklen Momenten, die oft Tag andauerten. Während dieser Phasen blieben die Seiten leer. Danach waren seine Worte wirr, die Sätze unvollständig. Es wirkte auf Michael fast so, als würde sich ein weiteres Bewusstsein in seine Worte schleichen. Dann, beim siebenundzwanzigsten Eintrag, der genau wie alle anderen, undatiert war, überkam Michael ein eiskalter Schauer.
DU LIEST GERADE
Cubus - Dunkles Verlangen
Mistério / SuspenseNach einer ominösen Mordserie an seiner Universität, sieht sich Dr. Michael Green bald mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert. Er schlägt ein Kapitel seines Lebens auf, das er fast erfolgreich verdrängt hatte. Getrieben von der Suche nach Wah...