Epilog

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Die Morgensonne schimmerte golden im bräunlichen Teich und ein weißer Rahmen zog sich rings um ihn. Genüsslich nahm der weiß gekleidete Herr mit den langen Haaren einen großen Schluck vom Kaffee. In seiner linken Hand hielt er ein Smartphone.

„Du solltest herkommen, Bruder. Ich sage dir, die wissen in diesem Laden wirklich, wie man Kaffee macht! Der vertreibt jeden Kater!"

Seth saß alleine im Garten eines pittoresken Cafés in Nepal. Die letzten Wochen hatte er damit verbracht, quer durch Italien zu fahren, während er unter einem Künstlernamen an seinem neuen Roman arbeitete.

„Matt hat bald seinen ersten Geburtstag, du solltest wirklich vorbeikommen", hallte Michaels Stimme aus dem Lautsprecher.

„Du weißt, dass ich das nicht kann. Zwar wurden alle Ermittlungen eingestellt, aber ich habe immer noch ein ungutes Gefühl dabei, nach Amerika zu reisen."

„Das versteh ich schon, aber ich hatte dir doch angeboten, bei einem Freund mitzufliegen. Du kommst her, wir holen dich ab und du bleibst ein paar Tage. Du bist weg, bevor irgendjemand dich sieht."

„Tolles Angebot, aber ich lehne ab. Vielleicht ja nächstes Jahr. Außerdem hab ich hier noch genug zu erledigen."

Kurze Stille herrschte zwischen ihnen. Ein grauer Vogel setzte sich auf den leeren Stuhl neben Seth.

„Ich vermisse dich, Bruder. Wir haben uns seit Syrien nicht mehr gesehen."

„Ich würde ja gerne kommen, aber... Lassen wir das. Ich, ich muss jetzt Schluss machen."

Die Brüder verabschiedeten sich und Seth trank den Kaffee vor sich aus. Er legte genug für den überteuerten Kaffee auf den Tisch und fügten noch ein gutes Trinkgeld hinzu. Anschließend ging er über den Hof zur Toilette.

Hektisch knöpfte er sein Hemd auf. Er füllte seine gefalteten Finger mit kaltem Wasser. Ein eiskalter Schwall traf ihn ins Gesicht und er erschauderte. Seine langen Haare hingen ihm tropfend vor die Augen. Aus dem Spiegel starrten ihm zwei leuchtende Pupillen entgegen. Seine Finger krallten sich in das Waschbecken. Ein Knacken durchbrach die Stille. Ein feiner Riss zog sich quer über die Armatur. Seth spürte, wie sich sein Brustkorb zusammenschnürte.

„Verschwinde, du Monster. Wir haben dich aus mir rausgeholt. Warum bist du jetzt wieder da?"

Er biss die Zähne zusammen und kam ganz nah an den Spiegel heran. Er zitterte.

„Na los jetzt! Hau ab!"

Seine Pupillen nahmen wieder ihre ursprüngliche, dunklere Farbe an. Das Seil, das sich um seine Lunge gewunden hatte, war verschwunden. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Wortlos knöpfte Seth sein Hemd wieder zu. Er warf einen letzten Blick in den Spiegel und verließ danach das Café. Das war das dritte Mal in dieser Woche. Es wurde häufiger.

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7 Jahre später

Ein braunes Blatt verfing sich in Michaels Haaren. Es hatte sich von dem schmalen morschen Ast gelöst, der einige Meter abseits des Weges herabgefallen war. Michael zupfte das dürre Ding aus seinen Strähnen. Wie gewöhnlich, wenn er privat unterwegs war, trug er ein weißes Poloshirt und eine dünne braune Stoffhose. Er war älter geworden. Die feinen Fältchen um seine Augen und die tiefen grauen Schneisen an seinen Schläfen zeugten davon.

„Papa, Papa! Sieh mal!", brüllte ihm der Junge an seiner Hand entgegen und zeigte dabei mit einem Finger auf einen großen Vogel, der sich gerade auf den Ast über ihnen gesetzt hatte. Matt hatte Geburtstag und es war sein größter Wunsch, ein Wochenende in den Bergen zu verbringen. Ein Abenteuer mit Wanderung, Zelten und allem, was dazugehört. Leider konnte ihm Michael diesen Wunsch nicht ganz erfüllen.

„Das ist ein Fischadler, mein Schatz", erklang Vanessas Stimme hinter ihnen, während sie nach oben starrten. Dr. Green drehte sich zu ihr um. Ihr Lächeln war immer noch genauso bezaubernd, wie an jenem Morgen, an dem er heil aus Syrien zurückgekehrt war. Auf ihrem Arm trug sie ein kleines Mädchen, keine zwei Jahre alt.

„Schläft sie?", fragte er. Seine Frau nickte.

„Schon eine ganze Weile. Ihr beide bekommt ja nichts mit, so beschäftigt wie ihr mit euren Abenteuern seid."

Michael musste lachen. Er hatte seinem Sohn zwar kein ganzes Wochenende in den Bergen schenken können, doch dafür verbrachten sie einen Tag hier im Nationalpark. Michael hätte seine Frau und seine Tochter alleine lassen müssen, um mit Matt hier über Nacht bleiben zu können. Außerdem wäre sonst niemand mit auf die Reise gekommen und für einen Trip zu zweit, war er noch zu jung, fand Michael. Ach wäre doch nur sein Bruder hier. Zu dritt hätte er liebend gerne die Nacht hier verbracht.

Plötzlich begann das Mädchen zu weinen, ihr Schlaf war vorüber.

„Ausgerechnet jetzt? Was ist denn mein Schatz? Hast du Hunger?", fragte die Mutter.

Das Mächen wurde immer lauter und sein Schreien scheuchte bereits die Vögel auf. In Scharen flatterten sie nun über die Köpfe der kleinen Familie.

„Dann müssen wir wohl zur Hütte gehen. Zum Glück sind wir eben erst an einer vorbeigekommen", stellte Dr. Green fest.

„Aber ich will noch nicht! Ich wollte noch da hinten den Hügel hinaufgehen!", beschwerte sich Matt und zeigte seiner Schwester die Zunge.

Michael seufzte. Nach einer kurzen Besprechung mit seiner Frau entschieden sie, dass er mit seinem Sohn noch ein Stück weitergehen würde, Vanessa ging inzwischen zur Hütte zurück, um Sophia zu füttern. Die Hütte durfte höchstens ein paar Hundert Meter entfernt liegen und auf dem Weg waren auch noch andere Leute gewesen. Sie gab Michael einen Kuss und drückte ihre Tochter an sich. Danach machte sich auch Michael weiter auf den Weg. Diesmal ging sein Sohn ein Stück voraus. Seine kleinen Füße wanderten den Hang hinauf, während Michael ihn fest im Blick hatte.

Ein bedrückendes Gefühl umklammerte plötzlich sein Herz. Er spürte, wie ein Blick auf ihm ruhte, ein Blick, den er kannte. Es fühlte sich kalt an. Kalt und dunkel. Nein, das konnte nicht sein. Nervös schaute er sich um, doch er sah niemanden. Was ging hier vor? Hatte er sich getäuscht? Gerade, als der Doktor das bedrückende Gefühl als Einbildung abschreiben wollte, hörte er Schritte hinter sich. Blitzschnell drehte er sich herum.

„Was zum?!"

Vor ihm stand ein Mann seiner Größe. Er trug eine weite braune Hose, schwarze Stiefel und ein beiges Muskelshirt. Seine gut trainierten Arme hatten die Farbe von frischem Karamell. Als der Mann die Fliegerbrille abnahm, sah er die Augen seines Bruders.

„Hallo Michael", sprach Seth mit warmer Stimme. Ohne ihm zu antworten, fiel Michael ihm in die Arme. Sein Bruder roch nach Tabak und Schweiß.

„Aber, was, was machst du hier?", fragte er überrascht.

„Na dich und meinen Neffen besuchen, hauptsächlich. Tut mir leid, aber ich bin relativ spontan hergekommen. War gar nicht so einfach, euch hier draußen zu finden."

„Aber du hättest doch einfach Zuhause warten können!"

Seth zuckte nur mit den Schultern. Erst jetzt bemerkte Michael, dass sich sein Bruder abgesehen von seiner Kleidung, wenig verändert hatte. Das letzte Mal hatten sie sich in London gesehen, vor etwa zwei Jahren. Seit dem Vorfall in Syrien hatten sie sich immer wieder irgendwo im Ausland getroffen, doch dies war das erste Mal, dass Seth in die Staaten zurückgekehrt war. Und genau wie letztes Mal, trug er seine langen Haare als Zopf zusammengebunden. Seinen Vollbart hatte er auf wenige Millimeter gestutzt.

„Wer ist das, Papa?", fragend stand Matt ein paar Meter neben den Brüdern. Sein Sohn wusste nichts von seinem Onkel, er hatte es bisher so gewollt. Wie würde Seth sich wohl jetzt verhalten?

„Ich bin, ein alter Freund deines Vaters. Weißt du, dein Papa hat mir vor vielen Jahren das Leben gerettet, ohne ihn wäre ich nicht hier. Mein Name ist Norbert, freut mich, dich kennenzulernen. Du heißt Matt oder?"

Seth ging einen Schritt auf Matt zu und zog etwas aus seiner Hosentasche. Das Schweizer Taschenmesser funkelte im Sonnenlicht.

„Ich habe gehört, dass du heute Geburtstag hast, stimmt das?"

„Wow! Ist, ist das für mich?!"

Mit großen Augen trat Michaels Sohn an seinen Onkel heran. Michael schmunzelte. Eigentlich hatte er ihn nicht angelogen, dachte er. Als er seinen Bruder so betrachtete, wurde er wehmütig. Wie sehr hatte er sich in den letzten Jahren gewünscht, dass Matt seinen Onkel kennenlernen würde. Er träumte von entspannten Grillabenden bei ihnen im Garten, oder von gemeinsamen Ausflügen. Vielleicht hätte Seth ja auch eine Familie gegründet? Als er seinen Bruder so von der Seite betrachtete, fiel ihm auf, wie jung er immer noch aussah. Kein einziges graues Haar hatte sich in seinen Schopf gemischt. Vielleicht gefärbt? Leisten konnte er sich die teuren Friseure in Europa garantiert. Schrieb er doch unter seinen Synonymen erfolgreichere Romane denn je. Wesentlich mehr irritierte Michael aber Seths Gesicht. Es strahlte vor jugendlichem Elan. Während er jeden Morgen neue Falten in seinem Spiegelbild entdeckte, zogen sich um Seths Augen nur wenige Linien. Er sah genauso aus, wie vor zehn Jahren.

„Schau mal Papa! Norbert hat mir das hier geschenkt! Das ist echt aus der Schweiz oder? Milo hat letztens mit seinem Taschenmesser geprahlt. Aber das war sicher nicht aus der Schweiz! Das hier ist viel besser!"

Der Doktor lächelte seinen Sohn an und tätschelte ihm den Kopf.

„Aber Vorsicht damit! Du ist ein Werkzeug für junge Männer und kein Spielzeug für Kinder, weißt du?"

Matt nickte selbstbewusst.

„Darf ich da hinten damit schnitzen?"

Er zeigte auf eine kleine Lichtung direkt neben dem Bergpfad. Dort gab es einige Baumstämme, die als Sitzbänke aufgestellt waren. An den Seiten wuchsen niedrige Haselnussbüsche, deren Äste sich hervorragend zum Schnitzen eignen würden.

„Aber pass ja auf, in Ordnung?"

Die beiden Brüder schauten Matt hinterher. Der Junge setzte sich zufrieden auf einen der Stämme und begann damit, an einem der Äste zu sägen.

„Zwei Jahre hast du dich kaum gemeldet. Warum tauchst du jetzt plötzlich aus dem Nichts auf?"

„Wie gesagt, ich hatte einfach Lust dich zu sehen, euch, zu sehen."

„Wo warst du nur die ganze Zeit? Komm doch endlich zur Ruhe!"

Michael schaute seinem Bruder direkt in die Augen.

„Das kann ich nicht, es. Es geht nicht. Noch nicht."

Er spürte, dass Seth ihm etwas sagen wollte, doch irgendetwas hielt ihn zurück. Was versteckte er nur vor ihm?

„Du bist doch extra hierher gekommen. Nach sieben Jahren kommst du zum ersten Mal nach Hause. Jetzt rück schon raus mit der Sprache, Bruder. Nach Syrien kann mich wohl nichts mehr schockieren. Wir stehen das gemeinsam durch."

Seth drehte sich zur Seite.

„Das ist nicht notwendig. Auch wenn ich es schätze, was du damals für mich getan hast. Wirklich, ohne dich wäre ich längst nicht mehr hier. Aber ich bin nicht deshalb hier. Ich wollte wirklich nur meinen Neffen und meine Nichte sehen. Apropos, wo steckt Vanessa überhaupt?"

Der Doktor spürte, dass die Worte seines Bruders nicht der Wahrheit entsprachen. Seine Stimme klang distanziert und kühl. Gerade als Michael ihm die Hand auf die Schulter legte und nach den richtigen Worten suchte, um zu ihm durchzudringen, ließ sie ein lautes Knacken herumfahren. Ein Windstoß huschte durch den Wald und ließ die Blätterkronen rascheln. Als würde die Zeit still stehen, erfasste Michael sofort die komplette Situation. Ein dicker Ast war aus der Krone eines riesigen Baumes gebrochen, er raste nun hinab zum Boden. Genau an die Stelle, an der sein Sohn saß und friedlich mit seinem neuen Messer schnitzte.

Seine Hand schnellte nach vorne und mit einem Satz stieß er sich vom Boden ab. Wie ein Weltklasse-Sprinter raste Michael auf die kleine Lichtung zu. Der Boden war fest und gab ihm guten Halt, dennoch war es zu weit. Er würde Matt nicht rechtzeitig erreichen können. Ihm wurde schwindlig und er brüllte, so laut es ging. Da bemerkte er aus dem Augenwinkel, wie etwas Schwarzes an ihm vorbeihuschte. Ein Schatten flog durch sein Blickfeld und erfasste seinen Sohn, nur Sekundenbruchteile, bevor der dicke Ast am Baumstamm zerschellte.

Dem Doktor stockte der Atem, Schweiß stand ihm auf der Stirn, sein Herz raste. Er blickte hinüber, wie Seth seinen Sohn im Arm hielt. Sie waren unverletzt. Als sein Bruder zu ihm herüberschaute, sah Michael einen Schatten über dessen Gesicht huschen. Ungläubig verharrte er wie im Schock und er starrte auf den abgebrochenen Ast, der reglos am Waldboden lag.

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Während sie zur Hütte zurückgegangen waren, hatte Seth kein unnötiges Wort mit seinem Bruder gewechselt. Michael hatte ihn immer wieder gefragt, wie er schneller sein konnte als er und dass er etwas Merkwürdiges auf seinem Gesicht gesehen hatte. Seth wiederum hatte nur beteuert, dass er ihm alles sagen würde, sobald sie alleine waren. Der Rückweg war nicht lang, keine zehn Minuten, doch dem Doktor war der Fußmarsch wie eine ausgedehnte Wanderung vorgekommen. Tausende Gedanken waren durch seinen Schädel gerast, während sie an den dicken Stämmen vorbeigegangen waren. Die Hand seines Sohnes hatte er fest in seinen Fingern gehalten und er ließ sie nicht mehr los, bis sie die Hütte erreicht hatten. Auch Vanessa war völlig überrascht gewesen, von ihrem unerwarteten Besucher, doch Michael hatte ihr nichts vom Vorfall erzählt. Matt selbst hatte überhaupt nicht realisiert, was passiert war.

Eine viertel Stunde später standen Michael und sein Bruder endlich unter vier Augen etwas abseits der Hütte. Auf der Lichtung gegenüber tollten einige Kinder, auch Matt hatte sich unter sie gemischt, während Vanessa den Spielplatz im Auge hatte. Sie wandte Michael jetzt den Rücken zu. Seth zog an seiner Zigarre, welche in Wirklichkeit nur Dampf mit Menthol Geschmack absonderte. Michael verlagerte unruhig sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

„Jetzt sei endlich ehrlich. Was in Gottes Namen war das gerade? Das war doch nicht etwa, dieses Ding, das du?"

Seth schnitt ihm das Wort ab.

„Nein, nein, es ist. Es ist kompliziert."

„Was ist daran kompliziert? Schon bevor du dich gezeigt hattest, hatte ich denselben kalten Blick gespürt, wie damals im Wald."

Sein Bruder seufzte.

„Also gut. Ja, grundsätzlich ist es wahr. Die Tatsache, dass ich schneller bei Matt war, also du. Dass ich dem Ast ausweichen konnte, das habe ich dem Inkubus zu verdanken."

Michael legte die Hand auf sein Gesicht und seine rauen Finger fuhren über seine Nase und seinen Mund.

„A-aber, wie? Wie ist das überhaupt möglich, wir haben ihn aus dir herausgeholt, sogar ihre Königin vernichtet. Er sollte für immer weg sein."

„Ist er aber nicht, okay? Ich wollte nicht, dass du davon erfährst und dir unnötige Sorgen machst!"

„Unnötig?! Was daran ist unnötig? In dir steckt immer noch ein paranormales Wesen, das dich schon vor Jahren dazu gezwungen hat, unschuldige Frauen zu vergewaltigen und brutal zu ermorden, hast du das etwa vergessen?"

Michael sprach zwar flüsternd, aber seine Worte waren herausgepresst und voller Wut. Wie konnte sein Bruder solch ein Geheimnis nur vor ihm bewahren? Er hatte ihm doch damals geholfen, und er hätte es wieder getan. Gemeinsam hätten sie das sicher schaffen können.

„Er ist ungefährlich. Wirklich, ich habe alles unter Kontrolle. Du hast eine Familie, um die du dich kümmern musst, vergiss das nicht. Da wäre eine Reise mit einem Bruder um die Welt echt das Letzte, das ich dir aufbürden würde."

Michael verstand nicht. Von welcher Reise sprach er? Seth reiste doch nur herum, um für seine Bücher zu recherchieren. Oder etwa nicht?

„Ich-ich verstehe gar nichts mehr."

„Also gut, ich erzähle dir die komplette Story, okay?"

„Gut. Aber diesmal, ohne etwas auszulassen."

Sie setzten sich auf einen glatten Felsen und blickten über das Tal. Ein schmaler Fluss zog sich schlängelnd hindurch.

„Es begann bereits einige Monate, nachdem wir aus Syrien verschwunden waren. Ich spürte die Dunkelheit in mir. Genau wie damals, vor all diesen Jahren. Immer wieder fühlte ich, wie eine vertraute Kraft in mir aufstieg. An manchen Tagen war es weg, an anderen kam es wieder. Doch etwas war anders. Beim letzten Mal war diese Dunkelheit überwältigend. Fast wie ein Ozean, in den ich gefallen war. Wenn der Inkubus mich übernommen hatte, war um mich nur die Finsternis. Doch diesmal war es anders. Es war eher so, als würde ich in einem schwarzen Fluss aus Schatten stehen. Ich spüre die fremdartige Macht, sie dringt in mich ein, aber sie übernimmt nicht die Kontrolle."

„War das der Grund, weshalb du dich in den ersten Monaten nur telefonisch gemeldet hattest?"

Seth nickte und fuhr fort: „Ich hatte keine Ahnung, was dieses Ding wollte, aber ich spürte, dass ich es kontrollieren kann. Ich wehrte den Inkubus ab und hielt mich in den ersten Monaten absichtlich von Menschen fern, so gut es ging. Nur in einzelnen Situationen begab ich mich in Szenarien, in denen der Inkubus früher übernommen hätte. Ich testete ihn. Doch da war nichts. Nichts als ein leichtes Kribbeln. Es war unkontrolliert und selbst in den intensivsten Momenten war es nicht mehr als eine kurze Flamme, die aufloderte. Dennoch machte ich mir Sorgen. Ich wollte herausfinden, warum ich immer noch besessen war. Also ging ich zurück nach Syrien."

„Was? Das hast du mir nie erzählt."

„Sorry, aber ich dachte, dass du dir Sorgen machen würdest, wenn ich von Gohar erzähle."

„Du warst bei ihr?"

„Sie war die einzige Person, der ich bedenkenlos von meiner Situation erzählen konnte. Im schlimmsten Fall hätte sie mich getötet und das Wesen somit endgültig vernichtet. Im besten Fall half sie mir zu verstehen."

„Und, wie hat sie reagiert?"

„Zuerst gar nicht gut. Sie wollte mich direkt erschießen, du kennst sie ja. Aber irgendwie konnte sie davon überzeugen, dass sie mir hilft."

„Wie hast du das denn hinbekommen? Bei unserer Abreise sprach sie doch davon, uns nie wieder helfen zu wollen."

Seth nahm einen tiefen Zug von seiner Dampf-Zigarre.

„Dafür musst du wissen, dass Gohar und ihre Truppe auch weiterhin auf der Jagd nach Dämonen waren."

„Was? Aber wie?"

„Als wir die Königin versiegelt hatten, gab es noch fünf weitere Inkubus, die da draußen waren. Ohne ihre Königin waren sie ziellos und völlig unberechenbar. Einige Wochen, bevor ich nach Syrien zurückgekehrt war, hatten die Soldaten einen von ihnen bei den Ruinen gestellt. Sie hatten ihn schon vor Wochen beobachtete, wie er in der Gegend umhergewandert war, aber erst eines Nachts, hatte er seine wahre Gestalt gezeigt. Er wollte wohl seine Königin befreien. Aber selbst ohne Gohars Truppe, wäre das nichts geworden. Zumindest nicht innerhalb der nächsten Jahre. Dennoch, er war eine Gefahr. Gohar griff ihn an und tötete den Inkubus. Dabei verlor sie jedoch vier ihrer Leute."

„Scheiße, ich glaube das nicht."

„Ja, sie erzählte mir davon und ich versprach, im Gegenzug bei der Jagd nach den verbliebenen vier Dämonen zu helfen. Über Wochen und Monate hinweg versuchten wir, herauszufinden, wie das Wesen in mir noch leben konnte. Irgendwann zeigte sich mir der Schatten direkt."

„Du, du hast mit ihm gesprochen?"

„Nun, nicht direkt. Es war mehr so, als teilten wir uns ein Gehirn. Ich konnte all seine Gedanken und Emotionen spüren. Eigentlich ist zumindest dieser Inkubus weniger böse, als wir dachten. Seine Königin behandelte ihn wie einen Sklaven und er war verpflichtet, ihr die Lebensenergie junger Frauen zu bringen. Offenbar hatte ihm mein Leben gefallen und er hasste es, umherstreifen zu müssen, in diesem Körper gefangen, während er den Auftrag seiner Meisterin ausführte. Dieser Hass manifestierte sich schlussendlich in den schrecklichen Morden."

„Du willst ihn doch nicht etwa in Schutz nehmen, oder? Vergiss nicht, was du wegen ihm alles tun musstest."

„Nein, keineswegs. Aber versteh doch, er hat nichts getan, was seinem natürlichen Wesen nicht entsprochen hätte. Die Sukkubus-Königin hat ihn rein dafür erschaffen, ihr als Sklave zu dienen. Seine Taten sind nicht zu rechtfertigen, aber mein Hass auf das finstere Wesen ist verflogen."

Michaels Worte machten Sinn, und dennoch fiel es dem Doktor schwer, das zu vergessen, was seinen Studentinnen angetan worden war. Aber blinder Hass half nichts. Wenn er jemanden hassen sollte, dann die Wurzel allen Übels. Und dieses Übel lag tief verborgen unter der Wüste Syriens.

„Bei dem Ritual damals scheint eine einzige Essenz des Inkubus in mir zurückgeblieben zu sein. Denn anders als gewöhnlich, bei der der Dämon den Wirt vollständig übernimmt und dessen Persönlichkeit übernimmt, hat wohl etwas von meinem Charakter auch auf den Inkubus abgefärbt. Dieser Teil dürfte vom Ritual verschont geblieben sein. Allerdings ist seine Macht jetzt nichts mehr weiter als das ferne Echo vergangener Tage. Mit jeder Woche schwindet die Kraft des Inkubus und in ein paar Jahren wird er wohl völlig erloschen sein. Auch er wollte seine letzten Tage wohl nicht gefangen in mir verbringen. Seitdem haben wir eine Vereinbarung."

„Eine Vereinbarung? Mit diesem Wesen?"

„Ja, anstatt ihn komplett auszutreiben, erlaube ich ihm, seinen Lebensabend als Teil von mir zu verbringen. Er beobachtet meine Taten und schmeckt zum Beispiel die Dinge, die ich esse oder trinke. Auch das hier", Seth zeigte auf seine Zigarre: „Menthol war sein Vorschlag."

Michael konnte einfach nicht glauben, was er da hörte. Sein Bruder teilte wissentlich seinen Körper mit einem Dämon. Jenem Dämon, der seine Studentinnen auf dem Gewissen hatte.

„Dafür leiht er mir den Rest seiner Kraft. Und es ist völlig anders als früher. Ich kann die übermenschliche Macht frei kontrollieren und sie wie meine eigenen Muskeln benutzen. Allerdings ist sie nicht damit zu vergleichen, was früher möglich war. Ich bin zwar immer noch unmenschlich stark und schnell und ich kann einiges einstecken, aber die praktische Unsterblichkeit ist lange dahin."

„Und, was hat Gohar dazu gesagt?"

„Nun, zuerst war sie dagegen. Aber sie brauchte mich. Ohne die Kräfte des Inkubus wären beim Kampf gegen die verbliebenen Dämonen noch weitaus mehr ihrer Leute gestorben."

„Und, habt ihr bereits welche erwischt?"

Seth nickte.

„Ja, gleich einige Tage später fanden wir einen Inkubus in einer Kleinstadt nicht weit von unserem Versteck. Durch die neuen Kräfte, die ich nun kontrollieren konnte, spüre ich seitdem die Präsenz anderer Wesen. Als wir den Dämon fanden, vegetierte er vor sich hin. Während des Tages betrank er sich als Mensch und in der Nacht misshandelte und tötete er die Frauen der Stadt. Wir stellten ihn und ich konnte ihn töten. Dabei wurde ich aber schwer verletzt, da ich die Kräfte noch nicht kontrollieren konnte. Also begann ich nach der Rückkehr und meiner mehrtägigen Genesungsphase ein besonderes Training mit Gohar. Sie zeigte mir die verschiedensten Kampftechniken und ich testete zudem, welche Dinge mir die dunklen Kräfte ermöglichten."

Michael war inzwischen aufgestanden. Nervös ging er um den kleinen Felsen herum.

„Und, was ist mit dem Dämon? Hat die ganze Sache keine Nebenwirkungen? Oder sekundäre Effekte?"

Seth schüttelte den Kopf.

„Wobei, nun ganz ohne Auswirkungen bleibt solch eine Veränderung natürlich nicht. Immerhin ist er ein Inkubus und kann sein natürliches Wesen nicht ablegen, auch wenn der mörderische Hass verflogen ist."

„Wie, wie meinst du das jetzt wieder?"

„Na, du weißt schon. Aber auch hierbei war Gohar eine große Hilfe."

Erst jetzt verstand der Doktor, worauf sein Bruder anspielte.

„D-du meinst?"

„Ja, sagen wir. Wir sind nicht nur auf dem Schlachtfeld Partner, sondern auch im Bett. Und lass mich eins sagen Bruder, die Frau weiß, wie man kämpft, aber das ist nicht ihre größte Stärke."

Beim Gedanken an die Sex-Eskapaden seines Bruders erschauderte Michael kurz.

„Ist, ist schon gut. Ich kann es mir wirklich vorstellen. Du brauchst nicht ins Detail zu gehen."

Seth schmunzelte und versuchte mit zweideutigen Anspielungen, seinen Bruder zum Lachen zu bringen. Zwar brach der Doktor nicht in schallendem Gelächter aus, aber einige kurze Lacher konnte er sich nicht verhalten. Irgendwann hatten sie das Thema gewechselt und saßen lächelnd nebeneinander.

„Und jetzt, wie geht es jetzt weiter? Bist du deswegen hier?"

Seth nickte.

„Wir fanden einen Inkubus in Bangkok. Er war völlig anders und hatte die menschliche Lebensweise perfekt angenommen. Er betrieb ein Bordell, in dem immer wieder Mädchen verschwanden. Was dahinter gesteckt hatte, brauche ich wohl nicht zu erklären, oder? Der Kampf war hart, aber wir hatten keine Verluste. Das war vor einem Jahr. Aktuell haben wir eine vage Spur, die uns vor wenigen Wochen in die Staaten geführt hatte. Deshalb bin ich hier. Zwei der Monster lauern noch da draußen und wir werden sie finden."

„Und zwischendurch dachtest du, du besuchst deinen Bruder, während du als dämonenjagender Söldner und Autor durch die Lande ziehst."

„Jetzt hör mal, es tut mir echt leid, dass ich dir nicht vorher davon erzählt habe, aber ich wollte alle verbliebenen Dämonen vernichten, bevor ich mit dir darüber rede. Du machst dir doch jetzt auch schon Gedanken, oder?"

„Du kennst mich. Trotzdem, du hättest es wir sagen können."

Die Brüder umarmten sich um Licht der untergehenden Sonne.

„Eine tolle Familie hast du da, Michael. Ich hoffe, dass ich meine Aufgabe bald abgeschlossen habe. Vielleicht komme ich dann endlich zur Ruhe."

Michael legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter. Gemeinsam starrten sie über das weite, mit Bäumen überwucherte Tal.


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Und mit diesem Epilog ist die Geschichte endlich vollendet. Was als Kurzgeschichte in einem Schreibwerkstatt vor Jahren begonnen hatte und dann viele Jahre auf Eis lag, ist jetzt zu Ende. Bin ich zufrieden? Ich glaube ja, mit einigen Einschränkungen. ICh mag, wohin die Geschichte sich entwickelt hat. Ich glaube, ich konnte eine nachvollziehbare Handlung erdenken, die zum ursprünglichen Text passt und diesen erweitert. Was mir weniger gut gefällt ist die Länge. Ich hatte Cubus immer als relativ kurze Geschichte geplant, weshalb ich auch die Sprache eher simpel gehalten habe. Auf ausschweifende Umgebungsbeschreibungen habe ich ebenso verzichtet, wie sekundäre Handlungsstränge. Und dennoch haben sich hie und da einige dieser Dinge hineingemischt. Eigentlich hätte der Text was die Wörter betrifft locker doppelt so lange sein können. Nach all den Jahren in der digitalen Abstellkammer wollte ich ihn aber endlich ferstigstellen. Insofern bin ich doch recht zufrieden. Auch die Figuren haben sich gut entwickelt und besonders Seth ist mir persönlich ans Herz gewachsen. Ich überlege sogar immer wieder, Episoden aus seinem Leben als Dämonenjäger zu verfassen... Ich hoffe, dass euch mein Mystery-Crime Drama gefallen hat. Bitte hinterlasst gerne eure Kommentare, Reviews und Anmerkungen. Ich freue mich riesig über jegliches Feedback. Bis bald!

Cubus - Dunkles VerlangenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt