„Normalerweise lässt er nicht zu, dass ich mich so schwer verletzte, aua, verdammt", klagte Seth. Blut tropfte von seiner Stirn, während Michael seine Wunde desinfizierte. Jede Berührung brannte auf seiner Haut.
„Gütiger Gott, Seth. Ich dachte, ich würde dich töten. Tu mir sowas bitte nie wieder an, in Ordnung?"
„In Ordnung, Bruder. Aber dein Schlag hatte ziemlichen Wumms. Gehst du wieder in Fitnessstudio?", scherzte Seth.
Michael lächelte und schüttelte dabei den Kopf. Selbst in solch einer Situation, er lag in Ketten in einer kalten Höhle und hatte gerade einen Hammer auf den Schädel bekommen, hatte Seth seinen Humor noch nicht verloren. Das war gut. Erleichtert atmete er aus. Lange hatte Dr. Green geglaubt, sein Bruder wäre ein Serienmörder und Psychopath. Dass er immer noch derselbe war, wie früher, beruhigte ihn etwas. Gleichzeitig jedoch war die Wahrheit hinter der Mordserie weitaus erschreckender.
„Dann haust in dir ein so eine Art dunkles Wesen?", fragte Michael.„Ja, so könnte man sagen. Aber, ich, ich weiß nicht. Es ist nicht so, als ob da jemand völlig anderes wäre. Es ist mehr so, als verstärke dieses Ding meine schlimmsten Seiten. Es ist ein Teil von mir und gleichzeitig so fremd und völlig anders."Michael nickte.
„So klar denken wie jetzt konnte ich schon Monate oder Jahre nicht mehr. Es kommt mir so vor, als würde sich ein Schleier lichten. Selbst in meinen besten Momenten war da immer dieser Schatten."„Also hat diese andere Seite verhindert, dass du die Kontrolle übernimmst?"„Ja, ich glaube schon. Es- es ist verdammt kompliziert dir das zu erklären. Dieses Gefühl ist unbeschreiblich. Als würden deine tiefsten Empfindungen verrückt spielen und deine Sicht verengen. Und dann ist da dieses Verlangen, über das du keine Kontrolle hast. Die meiste Zeit hab ich alles nur wie durch einen Schleier gesehen. An vieles kann ich mich aber auch gar nicht erinnern."
„Und die Mädchen?", fragte Michael endlich.Sein Bruder nickte und biss sich auf die Lippen.„Ja, ich. Ich erinnere mich. Gott verflucht, was hab ich nur getan?"„Ist schon okay, schon okay. Damit befassen wir uns später. Jetzt brauch ich erst mal mehr Informationen. Du sagst, im Moment hast du die Kontrolle?"„Ja. Es scheint so. Zumindest spüre ich keinen Drang, die Kontrolle zu verlieren. Normalerweise spüre ich den Drang schon Stunden vorher. Ein Druck in meiner Brust, der sich immer weiter aufbaut."
„Verstehe. Du musst mir unbedingt Bescheid sagen, sobald du nur die kleinste Regung verspürt, klar?"
„Klar, Bruder. Ich will dich doch nicht in Fetzen reißen."„Beim letzten Mal hatte das etwas anders auf mich gewirkt."Beide lächelten und schüttelten den Kopf. Dann führte Seth seine Erläuterungen fort.„Immer, wenn ich meinen Körper beansprucht habe, erlangte ich für eine gewisse Zeit die Kontrolle zurück. Wenn ich mich zum Beispiel mit Alkohol oder Drogen vollgepumpt habe. Oder eben jetzt, nachdem du mir einen neuen Scheitel gezogen hast. Ich glaube, diese dunkle Macht in mir nutzt gerade all ihre Kraft, um meinen Körper zu heilen. Das verhindert vielleicht, dass ich den Verstand verlieren. Vorerst."
„Das macht durchaus Sinn. Und erklärt auch, wie du den Autounfall damals so unbeschadet überstehen konntest. Du warst danach spurlos verschwunden."„Das Ding verleiht mir unheimliche Kräfte. Ich weiß echt nicht, was ich noch tun soll."Michael legte den Verband um den Kopf seines Bruders und setzte sich dann neben ihn.„Wir kriegen das wieder hin, okay?"„Meinst du?"
„Ich weiß es. Meine Patienten kommen immer durch!"Er blickte entschlossen zu seinem Bruder. Im Schein der Taschenlampen zeichneten sich tiefe Falten in Seths Gesicht. Er wirkte ausgelaugt und ohne Hoffnung. Das Ding hatte ihn wahrlich fertiggemacht. Michael schwor sich, alles zu tun, um seinem Bruder zu helfen. Das war er auch den Mädchen schuldig.
„Hör mir zu Bruder. Wir kümmern uns darum. So wie wir es früher auch immer getan haben. Wir finden einen Ausweg. Kannst du dich erinnern, wann dieses Ding dich zum ersten Mal übernommen hat?"Seth nickte.
„Ja. Ja natürlich. Ich weiß noch ganz genau, wie es war, als mich die Dunkelheit zum ersten Mal verschluckt hat. Damals schaffte ich es nicht, überhaupt bei Bewusstsein zu bleiben. Als ich wieder aufgewacht war, spürte ich die finsteren und fremdartigen Kräfte. Aber der Auslöser war etwas anderes."
„Wie, du weißt, wie es angefangen hat?"„Mhm. Im Laufe der Jahre wurde die Erinnerung daran klarer und die Einsicht überkam mich. Erinnerst du dich an unsere Reise nach Syrien?"Michael überlegte kurz und nickte.
„Genaue Bilder krieg ich immer noch nicht in meinen Kopf, aber ich denke, es begann an jenem Tag, an dem du in Damaskus geblieben warst. Ich war in diesem Dorf und habe Leute interviewt. Samir war auch dabei und danach, am nächsten Morgen. Verdammt ich fühlte mich unwohl und gleichzeitig besser als je zuvor. Es war so unwirklich."
„Das war doch die Nacht, in der du spontan im Dorf geblieben warst, oder?"„Genau. Aber keine Ahnung, was genau in der Nacht passiert ist. Ich erinnere mich noch immer nicht daran. Ich war sogar dort Michael! Vor drei Jahren war ich in Syrien. Aber das Dorf ist inzwischen von Banditen fast völlig zerstört worden."Dr. Green war inzwischen damit fertig, die Verletzungen seines Bruders zu behandeln. Er hatte ihm die Fesseln abgenommen und sie gingen nach draußen.„Erinnerst du dich, als wir hier gespielt haben?", fragte Seth.„Na klar. Die Höhle war unsere Geheimbasis. Den ganzen Sommer über haben wir Barrikaden gebaut, um uns vor den Zombies zu schützen."Sie lachten herzlich, während sie den fernen Autos zusahen, die über die Straße fuhren. Michael zückte sein Handy und suchte in seiner Kontaktliste.„Was hast du vor?", fragte Seth.„Alleine packen wir das nicht. Aber ich kenne jemanden, der uns vielleicht dabei helfen kann. Bist du bereit, einer Fremden zu vertrauen?"Seth blickte in die Ferne und nickte. Die Sonne erhellte seinen Oberkörper, der von zahlreichen Wunden gezeichnet war. „Hab ich denn eine Wahl?"Der Freizeichenton surrte in Michaels Ohr. Nach dem dritten Erklingen nahm jemand ab. Eine helle Frauenstimme meldete sich auf der anderen Seite der Leitung.„Hallo? Dr. Green?"„Hallo Nadia. Bist du allein?"„J-ja? Um was geht es denn?"„Du hast mir vor Jahren von diversen Mythen erzählt, denen du einst nachgegangen warst. Nun, es könnte sein, dass ich deine Hilfe bei etwas brauche, das damit zu tun hat. Am besten du setzt dich erst mal hin."
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Cubus - Dunkles Verlangen
Misterio / SuspensoNach einer ominösen Mordserie an seiner Universität, sieht sich Dr. Michael Green bald mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert. Er schlägt ein Kapitel seines Lebens auf, das er fast erfolgreich verdrängt hatte. Getrieben von der Suche nach Wah...