„Es zieht mich wieder an jenen Ort, an dem ich immer wieder tiefen Schmerz spüre. Doch seit ich diese Dunkelheit in mir trage ist daraus der bloße Zorn geworden. Ich stand an der Einfahrt und starrte minutenlang auf die Fassade. Sie war verblichen, bröckelte schon ab und dennoch sah ich es wie früher. Dann aber packte mich erneut dieses Gefühl. Es begann in meiner Brust und das Brennen zog sich durch meinen gesamten Körper. Ich musste flüchten, flüchten. Aber wohin? Mein Kopf drehte sich schon und ich rannte durch den Wald. Hastete zwischen den Bäumen hindurch und fand endlich die alte Höhle. Ich stürmte ins finstre Schwarz, meine Schritte hallten durch die Winkel und Erinnerungsfetzen füllten meinen Verstand. Ich hämmerte an die Wand. Schlug mir die Knöchel blutig, stieß mit dem Kopf gegen die Felsen. Plötzlich packte mich ein Gefühl der vollkommenen Schwärze, doch es war nicht diese unheimliche Dunkelheit, die mich ansonsten ergriff. Nein. Diesmal war es nur das stille, einsame Schwarz...Ich wachte am nächsten Morgen auf. Meine Glieder schmerzten, doch ich war immer noch an dem Ort, an dem ich das Bewusstsein verlor. Kein Blut an den Händen, kein Geschmack von Schuld im Mund. Das ist nun drei Tage her und selten fühlte ich mich so klar im Kopf, wie heute. Ich schreibe diese Zeilen in einem Moment der Wachsamkeit, auch wenn mich der Schatten in meiner Seele immer noch zurückhält. Ich fürchte, dieser Moment wird nicht lange andauern. Ich wünschte, ich könnte einfach sterben..."
Michael bog gerade an einer Kreuzung ab, an deren Seiten nur kleine Häuser, Wald und Felder lagen. Die Zeilen des Tagebucheintrages schwirrten immer noch durch seinen Kopf. Wie durch Seths Mund gesprochen, hörte er sie immer wieder, während er auf dem Weg nach Napa war. Einer Stadt, etwa eine Stunde nördlich von San Francisco gelegen und zugleich die Heimat der beiden Brüder. Der besagte Eintrag stammte von jener Seite, die aufgeschlagen war, als das Tagebuch im Hotel in Frankreich gefunden wurde. Auf den ersten Blick offenbarte sie nichts Ungewöhnliches. Zumindest nicht, wenn man das gesamte Buch gelesen hatte. Oftmals sprach der Verfasser von vagen Kindheitserinnerungen, Orten der Vergangenheit, oder dem Wunsch zu sterben. Allerdings überkam Michael beim dritten Lesen dieser Passage urplötzlich ein bedrückendes Gefühl. Es erinnerte ihn an jenes Empfinden, das er verspürte, als er vor Jahren hinter dem Serienmörder her war. Grund genug, an den Ort seiner Kindheit zu fahren und die Höhle zu inspizieren, in der er zusammen mit seinem Bruder oft gespielt hatte.
Minuten später stieg Michael aus seinem schwarzen Audi. Die Höhle lag einige hundert Meter hinter dem Haus ihrer Kindheit. Ein einfaches, aber einst schönes Einfamilienhaus mit zwei Stockwerken aus den Siebzigern. Heute wohnte dort niemand mehr. Seine Mutter war bereits vor Jahren nach San Francisco gezogen und betrieb dort ein kleines Geschäft für Kunsthandwerk. Das alte Haus wurde wohl aufgrund der Sanierungskosten und der einsamen Lage niemals verkauft. Als er den Waldweg entlang ging, suchte er im Laub die Fußspuren, die er und sein Bruder einst hinterlassen hatten. Er tastete sich an den Bäumen entlang, fand Kerben, die von Spielen mit Stöcken als Schwerter stammten und mit jedem Schritt, den er ging, zog sich seine Lunge nervös zusammen. Was würde er wohl finden? Ein ähnliches Bild wie damals? Er rechnete mit allem, als er schließlich vorm finsteren Eingang der Höhle stand. Es war seltsam. Als Kind verspürte er nie solch ein Gefühl der Angst. Seth und er nutzten diesen Ort als Rückzugspunkt und er wurde stets zur Basis ihrer imaginären Spiele, in denen sie abwechselnd die Rolle des Helden und des Schurken innehatten. Nun war es erneut eine ähnliche Situation. Zwar fühlte Michael sich keineswegs als Held, doch traf die Bezeichnung Schurke ziemlich treffen auf das zu, was aus Seth geworden war. Und dennoch. Nachdem Michael all die vielen Sätze voller Qual und Schmerz gelesen hatte, konnte er seinem Bruder diese Karte nicht so einfach zuschieben. Was auch immer der Auslöser für all dies gewesen sein mochte, es war nicht von dieser Welt. Eine Einsicht, die in Michaels Geist einen langen Prozess hinter sich hatte. Als extrem rational denkender Arzt fiel es ihm schwer, solche Dinge zu akzeptieren. Stattdessen hinterfragte er alles. Doch spätestens nachdem er das Tagebuch gelesen hatte, blieb ihm nichts Anderes übrig.
Die Höhle lag bedrohlich vor ihm. Der Eingang öffnete sich inmitten zahlreicher Bäume und die Felsen waren dunkelgrau. Der Boden wurde lehmig, war aber trocken. Ein tiefes Einatmen, ein schneller Griff in seine Tasche, er zückte eine Taschenlampe. Ein vorsichtiger Schritt. So trat er in die Schatten. Drei Tage waren vergangen, seit er das Buch zum ersten Mal in seinen Händen gehalten hatte und er hatte nicht gedacht, dass er so schnell vorankommen würde.Die finstere Gruft war kühl und feucht. Das spärliche Licht der Taschenlampe warf lange Schatten durch die Höhlenwände und es herrschte vollkommene Stille. Die Höhle war nicht groß, das wusste Michael noch und es gab nur zwei, drei Abzweigungen. Er erinnerte sich noch genau an jede Stelle. Die Taschenlampe wäre für seine Orientierung wohl gar nicht notwendig gewesen. Das schwache Sonnenlicht, das von draußen kam, gab ihm genug Orientierungspunkte. Dann erkannte er im erdigen Boden unter ihm etwas, das er als Fußspuren interpretierte. Sie waren undeutlich, hatten weiche Umrisse und waren fast nicht zu erkennen. Doch sie führten an der Gabelung zur linken Seite. Michael war sich sicher, dass nur wenige Meter in diese Richtung eine Antwort lag. Nicht auf alle Fragen, die er seit jenem Tag hatte, aber zumindest hoffte er, dass Seth irgendwo dort drin war.
Michael leuchtete ins Innere des Höhlenabschnittes. Der Durchgang war nur einen Meter breit und unwesentlich höher. Er duckte sich und leuchtete stetig in die Finsternis. Sein Herz pochte, die Luft in seinen Lungen war eiskalt und ließ seinen gesamten Körper gefrieren. Ein düsteres Unbehagen schlich sich über seine Beine hinauf und endlich hatte er die schmale Passage hinter sich gelassen. Vor ihm lag nun ein großer Abschnitt, die Decke war mehrere Meter hoch. Da vernahm er etwas, das sich wie ein metallisches Klirren anhörte. Als würde jemand mit einem Schlüsselbund rasseln, nur dumpfer. Michael leuchtete in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Da sah er sie. Zwei blitzende Augen, die in der Finsternis erstrahlten.„B-Bruder?", sprach eine heisere Stimme.
„Seth?", sagte Michael ungläubig: „Seth bist du das?!"Er stürmte auf die funkelnden Augen zu und erkannte ihn endlich. Die Gestalt, die da verletzt am eiskalten Höhlenboden lag, war tatsächlich sein kleiner Bruder. Seine Sportkleidung war vollkommen zerrissen. Hände und Füße waren mit Eisenringen gefesselt, und die Ketten die daran hingen, wurden mit massiven Haken in die Felswand geschlagen. Er sah müde aus, vollkommen fertig. Seine langen fettigen Haare sträubten sich in alle Richtungen und überall hatte er Blut an seinem Körper.
„Was ist hier geschehen? Ich verstehe das nicht."„Du bist wirklich gekommen. Es hat funktioniert...", schwach hauchte er den Satz mit einem Lächeln.Michael kniete sich an die Seite seines Bruders. Er stank nach Schweiß und Alkohol. Neben ihm lag eine zerbrochene Flasche billiger Whiskey.„Wo warst du all die Jahre? Was machst du hier? Was ist überhaupt los? Ach verdammt. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich, Ich hab dein Tagebuch gelesen. Ich wusste, dass du hier bist. Ich hab es gespürt. Seth, erklär mir, was ist damals passiert, als wir uns das letzte Mal sahen?"Seth begann zu röcheln. Er hustete. Sein gesamter Körper zitterte plötzlich und er atmete hektisch und tief. Die blutige Brust zitterte und fast kreischend sprach er: „Es. Es kommt wieder. Bitte. Nimm den Hammer und zieh ihn mir über den Schädel!"Michael zuckte zusammen.„Was? Was zum Teufel Seth?!"„Na los!", fauchte er.
Michael wich zurück, als er die leuchtenden Augen seines Bruders sah.„Das kann ich nicht tun Bruder. Willst du, dass ich dich töte?"„Es wird mich nicht töten, das lässt er nicht zu! Aber es wird ihn zumindest aufhalten, komplett die Kontrolle zu erklangen. Wenn ich wieder aufwache, sollte ich ein paar Stunden haben. Na los!!", schrie er nun spuckend unter Schmerzen.Als Michael sah, wie sich Seths Körper auf unnatürliche Weise krümmte, vertraute er ihm. Er vertraute seinen Worten, der nackten Angst in seinen Augen und packte den Hammer zu seinen Füßen am Stiel. Nervös sprang er hin und her. Sein Herz pochte unruhig. Sein Atem ging flach.„Ah Fuck!", brüllte Michael und holte mit ganzer Kraft aus. Mit einer gnadenlosen Wucht traf er den Schädel seines Bruders an der Schläfe. Die Blutspritzer auf Michaels zitterndem Gesicht waren eiskalt.
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Cubus - Dunkles Verlangen
Mystery / ThrillerNach einer ominösen Mordserie an seiner Universität, sieht sich Dr. Michael Green bald mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert. Er schlägt ein Kapitel seines Lebens auf, das er fast erfolgreich verdrängt hatte. Getrieben von der Suche nach Wah...