Kapitel 9 - Das Wesen

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Die Luft in Dr. Bakers Wohnung in der ersten Etage im Norden von San Francisco war angenehm kühl. Dennoch schwitzte Michael fast unnatürlich stark und fühlte sich unwohl. Er und sein Bruder Seth saßen auf der breiten Ledercouch im Wohnzimmer, während Nadia gegenüber an einer Art Anrichte stand. Die dunkelhaarige Frau war eher klein und zierlich gewachsen. Dennoch strahlten ihre maronibraunen Augen Autorität und Sicherheit aus.„Und du bist dir ganz sicher?", fragte Michael, während er mit den Füßen wippte.„Ja. Wie gesagt, vor einigen Jahren habe ich einen ähnlichen Fall bei einem Bekannten erlebt, als ich in Arabien war. Anders als Seth konnte dieser sich jedoch nicht im Zaum halten und verfiel in Rage."


„Und wie ging die Sache aus?", fragte Seth. Er trug jetzt wieder Handschellen zur Sicherheit.Dr. Baker schüttelte den Kopf.„Nicht gut für ihn. Wir versuchten ihn zu beruhigen, doch er verletzte einige unserer Crew. Wir konnten ihm nicht hinterher. Er wütete durch die Stadt und wurde schließlich vom Militär getötet. Doch sein Leichnam war der eines normalen Mannes. Wir fanden leider nichts weiter über ihn heraus. Erst Monate später fand ich Spuren zur Ursache."Die Expertin für vorderasiatische Kultur und Religionen drehte den Laptop zu uns herum. Der Bildschirm zeigte alte Reliefs und Malereien, auf denen Menschen um ihr Leben kämpften. Sie richteten Schwerter, Speere und Bögen auf einige wesentlich größere Gestalten. Diese dunklen Wesen hatten lange Klauen und fletschten die Zähne.„Das hier wurde in verschiedenen Teilen alter Ruinen im Nahen Osten gefunden. Jemen, Syrien, Arabien, die Türkei. Einzelne Funde wurden sogar in ehemaligen Staaten der Sowjetunion gefunden. Die Darstellungen unterscheiden sich zwar etwas, aber im Kern sind es immer finstere Wesen mit Krallen und Fangzähnen."


Dr. Green spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellen. Nadia schaltete durch weitere Fotos. Diese zeigten wieder die fremdartigen Wesen, die ihm unwirklich bekannt vorkamen. Immer wieder musste er an jene Nacht denken, in der er Seth im Wald begegnet war. Eine Malerei zeigt, wie sich eines der Wesen an einer Frau verging.„Verschiedene Kulturen berichteten von schattenhaften Wesen, die ihre Frauen vergewaltigten und die Männer töteten. Sie hatten verschiedene Namen, doch heute nennen wir sie Inkubus. Eine Art Dämon, der Besitz von Menschen ergreift und die finstersten ihrer Seiten zum Vorschein bringt."


Michael blickte hinüber zu seinem Bruder. Zwar wirkte Seth gelassen, doch die Zwillinge kannten sich zu gut. Dr. Green erkannte die Nervosität im leichten Zittern seiner Mundwinkel. Dr. Baker ging wieder ein Foto weiter. Michaels Gänsehaut weitete sich nun über den gesamten Körper aus. Der Bildschirm zeigte das Relief einer kurvigen Frau. Wäre der Rest des Bildes nicht gewesen, hätte man sie als schön bezeichnen können, doch schön war das letzte, an das der Arzt gerade denken konnte.„Das hier ist die Königin. Die Anführerin der Inkubus."Die Frau war vollkommen nackt und hatte langes Haar, das wie Feuer loderte. Zwischen ihren vollen Lippen ragten Fangzähne und die Zunge einer Schlange hervor. Vollendet wurde das groteske Bild durch Schwingen, die sie über sich ausgebreitet hatte. Grinsend saß sie auf dem nackten Leib eines Mannes. Offenbar hatte sie gerade Sex mit ihm, doch der arme Kerl genoss es keineswegs. Sein Gesicht war eine Fratze des Grauens. Genau wie das, der zahlreichen nackten Männerkörper, die um sie herum lagen. An den Seiten knieten vier der schattenhaften Wesen. Dr. Green musste schlucken. Früher hätte er solche Bilder wahnsinnig interessant gefunden und er hätte gerne darüber diskutiert, wie die primitiven Kulturen solche Mythen schufen. Doch mittlerweile war das alles zu real.


„Die Sukkubus-Königin ist die Anführerin der Inkubus. Sie befiehlt ihnen, sie mit Nahrung zu versorgen. Ihre Macht stellt die ihrer Untertanen bei weitem in den Schatten."Michael konnte nicht fassen, was er sich hier anhörte. Nadias Geschichten klangen so fantastisch und unglaublich. Und doch, er glaubt ihr. Immerhin hatte er allen Grund dazu.„Und, was können wir tun? Wie kriegen wir dieses Ding aus meinem Bruder raus?"„Ja, wie werde ich ihn los?", fragte Seth jetzt auch selbst.Dr. Baker nickte und klappte den Laptop zusammen. Behutsam stellte sie ihn auf den Tisch hinter sich und setzte sich an den Sessel neben sie. Sie saß jetzt neben Seth und machte eine besorgte Miene. „Es gibt das vielleicht einen Weg. Ich kenne jemanden in Syrien. Eine alte Freundin, die sich noch besser auf diese Dinge versteht als ich. Garantiert kann sie euch helfen. Aber, es wird nicht einfach."


„Das ist uns egal, solange es einen Weg gibt, diesen, wie nanntest du ihn, Inkubus, loszuwerden", antwortete Michael energisch.Nadia nickte.„Natürlich. Aber ich hoffe, du verstehst. Es kann wahnsinnig gefährlich werden. Nicht nur für deinen Bruder, sondern auch für dich."Michael blickte zu Seth hinüber.„Du, du hast doch eine Frau und bald ein Kind, oder? Kannst du das riskieren?"Seth setzte sich auf: „Dann mach ich es allein! Sagen sie mir einfach, wohin ich fliegen soll und wen ich treffen muss. Ich halt es nicht mehr aus, ständig hilflose Frauen anzufallen."„Nein Seth! Ich komme mit. Diesmal lasse ich dich nicht im Stich! Wir stehen das gemeinsam durch und kommen beide wieder zurück!"Dr. Green stand auf und musste tief Luft holen. Er trat ans Fenster und blickte in die Ferne. Sein Herz raste. Er dachte an Vanessa und das Baby, das in ihr wuchs. Nadias Worte stimmten, aber er konnte seinen Bruder nicht allein lassen. Nein, er würde alles daran setzen, ihn zu retten. Plötzlich hörte Michael, wie etwas hinter ihm umgeworfen wurde. Ein kehliger Schrei zerschnitt die Stille.


„Seth was zum?!", schrie der Doktor.Sein Bruder war aufgesprungen und hatte sich auf Dr. Baker geworfen. Er drückte sie in den Sessel und riss an ihrer beigen Bluse. Knöpfe prallten auf den Parkettboden.„Nadia!", rief Dr. Green jetzt und hastete am Sofa vorbei. Ein gellender Schmerz zog sich durch seinen Schädel, als sein Bruder ihm einen Schlag verpasste. Michael wurde zu Boden geschleudert. Kurz bevor er getroffen worden war, hatte er gesehen, wie Seths Augen vollkommen schwarz geworden waren.„Seth stopp! Bitte!"Gerade als er dachte, er könnte nicht verhindern, was gleich passieren werde, vernahm er einen weiteren Schrei. Doch er kam nicht von seiner Freundin. Dafür war er zu tief und surreal. Er blickte hinüber. Blut tropfte auf den Boden. Jetzt sah er es. Nadia hatte Seth ein Messer in die Flanke gerammt. Er löste seinen Griff und augenblicklich stieß Dr. Baker ihn mit ihren Beinen von sich weg. Seth stolperte, konnte aber verhindern, ganz hinzufallen. Auf dem Boden zog sich jetzt bereits eine Spur aus Blutstropfen. Sein Bruder schwankte, zog sich aber die Klinge aus seinem Bauch. Binnen Sekunden hatte die Wunde aufgehört zu bluten.„Genug jetzt!", rief Dr. Green. Der Schürhaken traf Seth am Hinterkopf. Michael spürte die Wucht des Treffers in seinem Arm. Die Vibration breitete sich durch das Metall durch seine Knochen aus. Leblos fiel sein Bruder zu Boden. Schnell hastete er hinüber. Er atmete! Wieder hatte ihm der Inkubus das Leben gerettet.„Es, es tut mir unglaublich Leid, ich...", brachte Dr. Green noch hervor.„Nein, ich wusste, worauf ich mich einlasse", schnitt Nadia ihm das Wort ab: „Ich war vorbereitet und es ist ja nichts passiert. Ich hoffe, Seth wird es auch schnell wieder besser gehen."Michael nickte.„Danke. Danke für deine Hilfe."

Cubus - Dunkles VerlangenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt