Kapitel 5 - Verbindung

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Das Röhren der Motorräder hallte über die wenig befahrene Landstraße durch die Wälder, bis hin zum Fuße des Berges zu ihrer Rechten. Die schwarze Yamaha fuhr dem Sonnenuntergang entgegen, dicht gefolgt von einer blauen Honda. Sie schenkten sich nichts. Gerade als die Yamaha eng um die Kurve bog, setzte die Honda zum Überholmanöver an. Mit einer letzten kräftigen Beschleunigung setzte sie sich vor sie und auf der nächsten langen Gerade hob der Fahrer der blauen Maschine seinen linken Arm, zur Faust geballt, als Zeichen des Triumphes. Die dämmernde Abendsonne zeichnete orange Konturen um die Fahrer und auf ihren Visieren schien ein Feuer zu tanzen. Doch das Feuer hielt nicht lange an. Schon Minuten darauf erschienen dunkelblaue Wolken am Himmel und verschränkten die Sicht zum Berggipfel. Die Sonne hatte Mühen es zwischen diesem Vorhang und dem Gebirgsgipfel zur Erde zu schaffen. Feine Tropfen sprenkelten die Visiere der Fahrer und die Luft war plötzlich eiskalt. Der Wind, der von Süden kam, erschwerte ihnen merklich das Fahren, sodass sie das Tempo drastisch drosselten. Dann endlich, sahen sie ein Licht im finsteren, von Wäldern bedeckten Tal. Ein Gebäude! Schnell fuhren sie zum rettenden Unterschlupf, welcher sich schlussendlich als Hotel entpuppte. Die beiden Fahrer stellten ihre Maschinen unter ein kleines Dach auf der Seite des Hotels. Es war nicht groß, lediglich drei Stockwerke mit einer barock anmutenden Fassade. Die goldenen Fensterrahmen gaben dem ganzen einen gewissen Kitschfaktor.


„Bon soire!", sprach der ältere Herr an der Rezeption. Die beiden Fahrer hatten es gerade noch rechtzeitig ins Gebäude geschafft, denn nun tobte ein regelrechter Sturm. Sie standen in einem pittoresken Eingangsbereich, der im Vergleich zum pompösen Äußeren überraschend schlicht eingerichtet war. Einige wenige Gemälde schmückten die ansonsten cremefarbenen Wände. Die dunklen Tische, Stühle und Kommoden fügten sich makellos in die helle Restoptik und sprangen regelrecht vom marmorfarbenen Granitboden hervor. Die Biker nahmen die Helme ab.„Wir sind Amerikaner. Verstehen Sie hier auch Englisch?", sprach Dr. Green freundlich und trat näher an die massive Empfangstheke heran. Der ältere Herr mit dem gezwirbelten Schnauzbart hatte schütteres graues Haar und erwiderte: „Natürlich meine Herren. Ich bin eigentlich Engländer. Mir gehört dieses kleine Hotel. Willkommen im St. Napoleon!"


Michael lächelte und antwortete: „Was für ein Glück. Mein Französisch ist ziemlich eingerostet. Das will ich nun wirklich niemanden antun."


„Was führt die beiden Herren in unser bescheidenes Haus?"


„Mein Bruder und ich kommen gerade aus Genf und sind auf dem Weg an die Cote d'Azure. Und jetzt hat uns gerade der Regen überrascht. Wir wollten eigentlich noch bis Voiron oder sogar nach Lyon. Da haben wir uns wohl leider etwas mit dem Wetter verspekuliert."


„Ein Glück für sie, dass ich mich vor fünfzehn Jahren entschied, genau an dieser Stelle ein Hotel zu errichten. Bis zur Stadt sind es noch gut und gerne fünfzehn, zwanzig Minuten. Bei diesem Wetter wäre es wohl unmöglich, mit ihrer Maschine weiterzufahren, oder?"


„Da haben sie Recht. Es war wirklich ein Glück."


Der ältere Herr lächelte: „Mein Name ist übrigens Roger. Gedenken die Herren nur den Sturm abzuwarten, oder hätten sie gerne Unterschlupf für die Nacht?"


„Es sieht nicht so aus, als würde sich das Wetter bald ändern. Außerdem ist die Sonne fast untergegangen. Ich denke, wir bleiben. Was sagst du Seth?"


Nun trat endlich auch Michaels Bruder an den Tresen. Er hatte sich bisweilen mit der Inneneinrichtung beschäftigt und inspizierte die Möbel. Ganz besonders hatten es ihm anscheinend die Gemälde angetan, die von einem Künstler stammten, der ganz offensichtlich ein Van Gogh-Fan war. Die haselnussbraunen Haare trug er als Pferdeschwanz, wobei ihm einzelne lange Strähnen seitlich über die Stirn hingen.


„Brauchst du nach der Niederlage beim letzten Stück ne Pause Bruder?", scherzte er. Michael lächelte nur.„Also mich stört's nicht, später noch in die Stadt zu fahren. Aber eigentlich sieht's hier ganz gemütlich aus."Auch Roger lächelte und hatte bereits die Unterlagen vor sich ausgebreitet: „Dürfte ich einen von Ihnen freundlicherweise um einen Ausweis bitten?"„Natürlich", antwortete Michael und zückte seinen Reisepass aus dem Inneren seiner Motorradjacke.


Roger füllte den Bogen routiniert aus und während sie warteten, wurde ihnen von einem jungen Kellner etwas zu trinken angeboten.„Und Sie sind Dr. Greens Bruder, nehme ich an? Ihr Name lautet?"Seth überlegte kurz und betrachtete das sepiafarbene Foto hinter dem alten Mann. Dann lächelte er verschmitzt und sagte: „Wissen Sie was, tragen Sie einfach Norbert Carens ein."


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Es passte alles zusammen. In Michaels Kopf fügte sich ein Teil ins Andere. Der Motorradtrip durch Europa. Seths Künstlernamen, den er hin und wieder angab und seine eigene Anschrift, die sie damals hinterlassen hatten. Gerade hatte er bei der Nummer mit der Vorwahl 33, natürlich für Frankreich, zurückgerufen und erfahren, dass vor drei Tagen jemand unter dem Namen Norbert Carens eincheckte. Der junge Mann mit der schrecklichen englischen Aussprache erzählte ihm auch, dass dieser Jemand ein Tagebuch vergessen hatte und er nun deswegen angerufen hatte. Seths Künstlername. Ein Tagebuch, das er vergessen hatte. Die Nacht vor fünf Jahren. Tagebuch. Die Zahnräder in Michaels Kopf arbeiteten unter Hochdruck. Klick. Klick. Klick.


„Ist Mr. Philips zu sprechen?", fragte er anschließend.„Natürlisch. Isch kann sie gleisch verbinden", antwortete der Franzose.Tuut. Tuut. Tuut. Eine lästige Freizeichenansage später, das Ganze war zudem mit viel zu lauter klassischer Musik hinterlegt, wurde er endlich verbunden.„Dr. Green?"„Roger?"„Es freut mich, von Ihnen zu hören. Wie geht es Ihnen?"„Danke der Nachfrage. Mir geht es fantastisch. Ihr Angestellter hat gestern einige Male versucht, mich anzurufen."„Tatsächlich?"„Er sagte mir, dass in den vergangenen Tagen jemand den Namen Norbert Carens angab, als er eincheckte und, dass dieser Jemand ein Tagebuch vergessen hätte."„Nun. Davon weiß ich nichts. Haben Sie kurz eine Augenblickt zu warten? Ich würde mich schnell über die Sachlage informieren."„Aber sicher doch. Tun Sie ruhig."Einige Minuten an der stillen Leitung horchend später, bestätigte Roger Michaels Worte. Norbert Carens war drei Tage im Hotel untergebracht und hatte auch einen Ausweis mit diesem Namen dabei. Er war bereits in der Datenbank erfasst, bei welchem Eintrag jedoch Michaels Anschrift hinterlegt war.„Und wo wurde das Tagebuch gefunden?"„Es lag aufgeschlagen am Schreibtisch des Zimmers. Außerdem lag dort auch noch die Füllfeder, mit der offensichtlich erst kürzlich etwas hineingeschrieben wurde."„Wer hat das Buch gefunden?"„Eine meiner Angestellten. Ein Zimmermädchen namens Sophia. Weshalb ist das wichtig? Gibt es irgendein Problem?"„Nein, nein. Nichts, um das sie sich sorgen müssten Roger. Hat sie darin gelesen, oder irgendetwas dazu gesagt? Ist ihr etwas Seltsames aufgefallen?"„Nicht, dass ich wüsste. Sie hat mir eben gesagt, dass sie nur auf die erste Seite gesehen hat, um zu erfahren, wem es gehöre."„Okay. Vielen Dank. Wäre es denn möglich, dass sie mir das Tagebuch zukommen lassen?"„Selbstverständlich. Genau deshalb hat sie mein Angestellter ursprünglich kontaktiert. Und entschuldigen Sie nochmal die nächtlichen Anrufe. Er ist manchmal etwas schusselig und hat die Zeitverschiebung wohl vollkommen vergessen."„Kein Problem Roger. Wäre es dann vielleicht noch möglich, Sophia zu fragen, welche Seite genau aufgeschlagen war und dies in einer Notiz mitzusenden?"„Das kann ich natürlich machen. Ihrem Bruder Seth geht es doch gut?"„Danke. Und ja, eigentlich ja. Aber wissen Sie, es ist etwas kompliziert."„Ich verstehen schon. Wissen Sie, ich kenne sie kaum, jedoch merke ich, dass hier irgendetwas vor sich geht und eigentlich geht mich das überhaupt nichts an. Aber ich hoffe, dass Sie bald aufklären, was sie bedrückt."Michael seufzte: „Danke Roger. Und tun Sie was gegen diese Bandansage. Die ist schrecklich."So beendeten Sie das Gespräch mit einem herzhaften Lachen.

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