Kapitel 10 - Das Juwel der Wüste

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Schweißperlen standen Dr. Green auf der Stirn. Er tupfte sie mit einem Tuch weg, eine Szene, die ihn an eine seiner OPs erinnerte. Wie sehr hätte er sich gewünscht, jetzt mit Skalpell in der Hand über einen Patienten zu stehen. Im Operationssaal hatte er immer die volle Kontrolle, er war ruhig, kalkuliert und vollends konzentriert. Aktuell sah die Lage etwas anders aus. Am Tag zuvor war er gemeinsam mit seinem Bruder in Damaskus angekommen. Sie hatten für die Nacht ein billiges Hotelzimmer in der Nähe des Flughafens genommen und waren gleich am Morgen mit einem Taxi ins Landesinnere aufgebrochen. Jetzt saßen sie unter einem Sonnenschirm in einem kleinen Dorf, das südlich der Hauptstadt lag. Doch auch im Schatten war es drückend heiß und schwül. Seth schien die Hitze nichts auszumachen, er stand lässig mit Sonnenbrille in der prallen Sonne.


„Na immerhin hat deine Veränderung auch was Gutes, was?", scherzte Michael. Sein Bruder lachte. Das Dorf selbst war nur wenig belebt. Hier und da sah man einige Kinder, die in den schmalen Gassen spielten, oder alte Leute, die aus ihren Häusern lugten.„Ich hoffe trotzdem, dass sie bald kommen. Diese Warterei macht mich wahnsinnig."Als hätte jemand Seths Worte erhört, erblickten die beiden einen braunen Jeep, der um die Ecke bog. Er hatte eine Ladefläche und darauf saßen zwei Männer mit Maschinengewehren. Michael trat einen Schritt nach vorne, um besser gesehen zu werden. Langsam fuhr das Fahrzeug an sie heran. Durch die offene Scheibe sprach sie ein glatzköpfiger Kerl mit Schutzweste an.„Ihr seid die Amerikaner, oder?", sprach er in schlechtem Englisch.Michael nickte.


„Ja. Mein Name ist Dr. Michael Green, und das ist mein Bruder Seth Green. Dr. Baker schickt uns."


Der fremde Mann blickte kurz zur Ladefläche zurück und sprach etwas in einer Sprache, die Michael nicht verstand. Augenblicklich stand einer der Männer auf und setzte sich auf die Beifahrerseite.


„Ihr sitzt hinten", war alles, was der Glatzkopf sagte.Die beiden Brüder sahen sich kurz an und stiegen dann nach hinten auf das Fahrzeug. Der verbliebene Fremde sah sie grimmig an und schloss seine Finger um sein Gewehr. So fuhren sie aus der kleinen Ortschaft und weiter ins Landesinnere. Sie passierten verlassene Dörfer, zerstörte Häuser und Felslandschaften, auf denen Grasbüschel und Sträucher wucherten. Nach über einer Stunde waren sie endlich angekommen. Der Jeep hielt am Fuß eines felsigen Hügels. Hinauf führte ein schmaler Kiesweg, an dessen Ende man ein Haus erkennen konnte, das im Schatten des Hügels lag.


„Na los, hinauf", sprach der glatzköpfige Mann. Erst jetzt fiel Michael die Narbe an seinem linken Auge auf, die sich über die Augenbraue und über seinen Nasenrücken zog. Michael und Seth sprangen von der Ladefläche.„Alles okay, Bruder? Wie geht's dir?"Seth streckte den Rücken durch und antwortete: „Alles in Ordnung. Der Drogencocktail von vorgestern hat wohl endlich seine Wirkung zur Gänze verloren."„Und spürst du etwas?"


„Noch nicht. Aber du bist ja ausgerüstet, oder?"Michael nickte. Mittlerweile hatte er einen ganz guten Einblick in die Art und Weise, wie der Inkubus in Seths Körper funktionierte und wie er ihn in Schach halten konnte. Es war im Prinzip nicht anders als bei einem seiner Patienten. Er untersuchte die Ausgangslage, nahm Anpassungen vor und beobachtete die Veränderungen. Bevor sie in San Francisco in das Flugzeug gestiegen waren, hatte Dr. Green seinem Bruder eine Mischung verschiedener Betäubungsmittel und anderer chemischer Substanzen gegeben. Er hatte sie in den Wochen vor ihrer Abreise getestet und die Wechselwirkungen aufeinander abgestimmt. Schlussendlich sorgten sie dafür, dass Seth während des Fluges und auch am Tag danach in einen komaähnlichen Zustand fiel. Er war nicht wirklich bewusstlos, büßte allerdings einen Großteil seiner motorischen Fähigkeiten ein. Zudem war seine Wahrnehmung extrem eingeschränkt. Das Vorhaben war nicht ungefährlich, doch Seth bestand darauf. Er wollte niemanden mehr gefährden. Es reichte, wenn sein Bruder sich gemeinsam mit ihm in Lebensgefahr begab. Jedenfalls hatte der Cocktail dafür gesorgt, dass der Inkubus ruhiggestellt wurde. Die Frage war nur, für wie lange noch. Aus diesem Grund trug Michael einen starken Elektroschocker bei sich, den er in Damaskus aufgetrieben hatte.

Cubus - Dunkles VerlangenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt