20 - Wir waren Fünf

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„Ich geh jetzt nach Brooklyn", sagte sie entschlossen.

Mit einem Satz war ich nun auch über das Geländer gesprungen und stand neben ihr auf der Eisfläche.

„Bist du bescheuert, du kannst nicht über den East River bis nach Brooklyn laufen!"

„Wieso nicht?", fragte sie provokant.

„In der Mitte sind bis vor kurzem Schiffe langgefahren. Du hast keine Ahnung, ob das Eis da dick genug ist. Außerdem ist das totaler Schwachsinn! Es ist arschkalt. Komm jetzt wieder runter!"

Sie zuckte mit den Schultern.

„Wenn es arschkalt ist, dann ist er auch zugefroren."

Ich packte sie nun am Arm.

„Rosie!", sagte ich ernst. „Ich weiß, dass du Furchtbares durchgemacht hast, aber bitte handle deswegen jetzt nicht so dumm! Oder siehst du sonst irgendjemand hier, der auf die Idee kommt über den East River nach Brooklyn zu laufen?"

Sie wand sich aus meinem Griff und sah mich böse an.

„Du hast keine Ahnung, was ich durchgemacht habe! Ich wurde vergewaltigt! Ich hatte Todesangst. Ich dachte, ich muss sterben! In meinen Träumen muss ich es immer und immer wieder erleben. Das wir nie aufhören! Und nun erfahre ich, dass mein Bruder auch so ein Typ ist und zudem noch, dass er ein Mädchen geschwängert ist, welches wir schon seit der Vorschule gehasst haben. Hazel Richards ist scheiße. Das wissen wir beide! Warum hat sich Bobby ausgerechnet dieses dumme Ding ausgesucht?"

Jetzt wurde sie wirklich unfair.

„Rosie, jetzt mach aber mal halblang!"

Wieder war da dieses höhnische Lachen.

„Das wundert mich nicht, dass du das sagst. Du bist doch immer die Prinzessin Sunny. Immer dreht sich alles um dich! Während ich von Parker vergewaltigt wurde, hast du mit ihm romantische Dates gehabt. Während ich die Schmerzen ertragen musste, hast du mit Kent rumgemacht und gleichzeitig Drew das Herz gebrochen! Du bist so verdammt rücksichtslos. Immer dreht sich alles nur um dich. Du hast das schöne Leben. Und was ist mit mir? Meine Jungfräulichkeit habe ich durch eine Vergewaltigung verloren. Mein Bruder reitet sich gerade richtig in die Scheiße und mein Vater wird wahrscheinlich einen Herzinfarkt bekommen, wenn er das alles hört und dann bin ich Vollwaise. Aber herzlichen Glückwunsch, dass es in deinem Leben so super läuft!"

Ihre Worte trafen mich hart. Stumm sah ich sie an. Wie lange hatten diese Gedanken sich schon in ihrem Kopf festgesetzt? Seit wann war da dieser Neid. Zumal er völlig unbegründet war. Mein Leben war alles andere als perfekt.

Rosie entfernte sich derweil weiter vom Ufer.

„Rosie!"

Es kostete mich Überwindung ihren Namen zu rufen, denn sie hatte mich soeben sehr verletzt. So etwas von seiner besten Freundin zu hören, war wie ein langsamer, tief Stich ins Herz.

„Bleib stehen!", rief ich ihr hinterher, doch sie ignorierte mich. Stumm stapfte sie über das Eis. Ich lief ihr nach. Erst langsam, dann rannte ich. So konnte ich das nicht auf mir sitzen lassen.

„Was soll das?", brüllte ich sie nun an. Sie lief weiter, hatte sich aber kurz umgedrehte, sodass ich wusste, dass sie mich hören konnte. „Es tut mir leid, was mit dir passiert ist", fuhr ich fort. „und auch das mit Bobby, aber das ist nicht meine Schuld! Und ich habe mich nun mal in Kent verliebt! Ist das verwerflich? Nein! Man kann sich nicht aussuchen in wen man sich verliebt! Wenn du eine echte Freundin wärst, dann würdest du versuchen dich für uns zu freuen!"

Nun blieb sie stehen und drehte sich um. Wir waren schon etwa 50 Meter vom Ufer entfernt. Bis Brooklyn waren es aber bestimmt noch 800m. Ich sah wie die Jungs von der Manhattan-Seite zu uns herüber gerannt kamen.

„Du bist so ein dummes Miststück!", feuerte Rosie mir ins Gesicht.

Dann rannte sie los und ich konnte nur hinterher starren.

In diesem Moment erreichten mich die anderen. Bobby und Drew rannte weiter, während Kent bei mir stehen blieb.

„Was macht ihr denn? Wieso lauft ihr aufs Eis?", fuhr er m ich an.

Es war die pure Sorge, die aus ihm sprach.

„Das musst du Rosie fragen! Sie ist verrückt geworden!", wütete ich, noch immer von ihren Worten getroffen.

Dann ertönte lautes Knacken und es folgten Schreie. Als ich meinen Kopf drehte, sah ich das Unglück. Es schauten nur noch zwei Köpfe aus einem Loch. Ich sah, wie Rosie versuchte sich aus dem eiskalten Wasser zu hieven, doch ihre Muskeln schienen bei der Kälte zu versagen. Bobby suchte panisch das Wasser ab, auf der Suche nach Drew. Sobald wir die Situation erfasst hatten, rannten Kent und ich los. Noch nie zuvor in meinem Leben war ich so schnell gerannt. Als wir das Loch erreichten, ergriff ich sofort Rosies Hand. Ich war froh, als ich merkte, dass es für mich machbar war, sie alleine herauszuziehen. Dann sah ich wie Bobby Drews Kopf an den Haaren an die Oberfläche holte. Sofort schnappte Drew gierig nach Luft. Er sah aus, als hätte er große Schmerzen. Kent versuchte sofort Drew zu packen und ihn herauszuziehen. Dann knackte es ein zweites Mal und wieder waren da Schreie. Dieses Mal auch mein eigener. Der vermeintlich sichere Boden verschwand unter mir. Plötzlich war ich selbst in diesem eiskalten Wasser. Wir alle waren es. Mein Brustkorb zog sich durch die Kälte zusammen. Ich konnte nicht atmen. Die Kälte fraß sich schlagartig in meinen Körper.

Ich war immer eine gute Schwimmerin gewesen, doch die Kälte hatte innerhalb von Sekunden all meine Muskeln außer Kraft gesetzt. Ich konnte mich selbst nicht retten.

Wir waren 5Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt