Fünf Monate nach dem Unglück hatte ich meinen Abschluss gemacht und war nach Miami gegangen, um dort zu studieren. Möglichst weit weg von allem. Ich wollte vergessen, einfach nur vergessen.
Es war nun dreieinhalb Jahre her. Ich war seitdem nicht mehr in die Heimat zurückgekehrt. Dad kam mich zu den Feiertagen immer besuchen, aber ich hatte es nicht übers Herz gebracht je zurück nach San Francisco zu gehen. An dem Ort, wo all die Erinnerungen wie ein schwarzer Schleier über der Stadt hingen. Wo ich Kent, Sunny, Drew und Bobby in jedem Baum, in dem Auto und in jedem Sandkorn sah.
In dem ich in Miami lebte, konnte ich mir die Illusion bewahren, dass sie noch immer glücklich in San Francisco lebten. Nur halt ohne mich. Ich hatte nie richtig akzeptieren können, dass sie wirklich tot waren.
Ich fand in Miami neue Freunde. Wir lachten und feierten gemeinsam, aber es war eine andere Art von Freundschaft. Wir FÜNF hatten eine Freundschaft fürs Leben gehabt, die einzigartig gewesen war.
Ich hatte nie wieder in die Heimat zurückgewollt, doch nun stand ich doch vor dem Haus, in dem ich und Bobby aufgewachsen waren. Dad war krank und er brauchte meine Hilfe. Es hatte mich viel Überwindung gekostet in dieses Flugzeug zu steigen.
„Hey, Dad!", rief ich, als ich in den Flur trat.
Ich hatte noch immer den Schlüssel.
„Ich bin im Wohnzimmer", rief er mit schwacher Stimme zurück.
Er saß in seinem Sessel, als ich dort ankam. Er sah so unglaublich alt aus. Erst hatte er seine Frau verloren, dann seinen Sohn. So etwas konnte man nicht verkraften.
Ich ging zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
„Wie war dein Flug?", erkundigte er sich.
„Gut, wie geht es dir?"
Er zuckte mit den Schultern.
„Schmerzen, aber die Medikamente machen es erträglich."
„Was kann ich für dich tun?"
„Auf der Anrichte liegt eine Einkaufsliste. Es wäre wirklich lieb von dir, wenn du einkaufen gehen könntest. Mein Kühlschrank ist leer.".
„Natürlich. Ich hol uns etwas Leckeres zum Abendbrot."
Ich schnappte mir den Zettel und den Fünfziger, der daneben lag.
„Rosie?", sagte Dad, als ich schon die Türschwelle übertreten hatte. Ich drehte mich noch einmal um.
„Ja?"
Er sah mich eindringlich an.
„Es ist schön, dass du wieder hier bist!"
Ich sagte darauf nichts mehr und verließ das Haus. Es tat weh durch die Straßen zu laufen, in denen ich mit ihnen Radfahren gelernt hatte. Es schmerzte an den Ecken vorbei zu gehen, an denen wir uns immer getroffen hatten, um zusammen zur Schule zu gehen. Es zerbrach mein Herz an den Cafés vorbei zu schlendern, in denen wir uns unser Lieblingseis gekaut hatten. Ich war die einzige, die sich daran noch erinnern konnte, denn die anderen waren tot. Sie würden nie alt werden. Sunny und Drew hatten nicht einmal die Volljährigkeit erreicht gehabt. Keiner von ihnen hatte je legal Alkohol trinken dürfen. Ich musste manchmal an unsere Wette denken. Sunny hatte nie Sex gehabt. Es gab so viele Dinge, die sie nie erleben würden. Mein ständiger Begleiter war ein schlechtes Gewissen, weil ich lebte. Ich dürfte neue Erfahrungen sammeln und eine Zukunft haben. Dabei war ich aufs Eis gerannt. Doch sie waren gestorben.
Ich wischte mir eine Träne weg, während ich die Straße entlang ging.
Der Supermarkt sah noch aus wie damals. Sunny und ich hatten uns dort nach der Schule immer Schokolade geholt.
Ich schnappte mir einen Einkaufswagen und schlängelte mich durch die Regale.
Und dann sah ich sie. Aus irgendeinem Grund war ich davon ausgegangen, dass sie weggezogen war, doch offensichtlich war das nicht der Fall.
Sie hatte sich verändert. Die sonst fettigen Haare waren zu einem ordentlichen Zopf zusammengebunden. Sie trug einen schwarz Rock und dazu eine weiße Bluse. Offensichtlich war sie gerade von Arbeit gekommen. Neben ihr lief ein kleiner, rothaariger Junge.
Es stimmte also. Bobby war tatsächlich der Vater. Der Junge sah ihm ähnlich. Es war zwar Hazels Mund und auch ihre Nase, aber die Augen waren die von Bobby. Kein Zweifel.
Ich starrte das Kind an. Es war meine Schuld, dass es ohne Daddy aufwachsen musste und nicht einmal eine Ahnung hatte, wer er war. Ich hatte niemandem die Wahrheit gesagt. Ich war die einzige auf dieser Welt, die wusste, was in der Nacht geschehen war, als Hazel schwanger wurde.
Ich sah wie der Junge vor einem Regal stand und versuchte an eine Cornflakespackung zu kommen. Diese war jedoch außerhalb seiner Reichweite. Ehe Hazel es bemerkte, war ich auf ihn zu gegangen und hatte ihm die Packung gegeben. Mit großen Augen sah er mich an.
„Sam, sag Danke!", hörte ich Hazels zarte Stimme.
Ich zuckte leicht zusammen.
„Danke", murmelte Sam leise und lief zu seiner Mutter. Diese sah mich nun an. Meine Augen wurden schon wieder wässrig.
„Wir waren auf einer Schule", hörte ich mich sagen.
Hazel runzelte die Stirn.
„Ja, ich weiß. Du warst Chef-Cheerleaderin. Jeder kannte dich, aber ich hätte nicht gedacht, dass du mich kennst."
Wenn sie nicht gerade die Mutter meines Neffen gewesen wäre, hätte ich sie wohl über die Jahre hinweg auch vergessen gehabt.
„Du warst schwanger im letzten Jahr. Das merkt man sich."
Sie lächelte leicht und strich Sam über den Kopf.
„Ja, das Beste, was mir passieren konnte", sagte sie stolz.
Es kostete mich vollste Konzentration nicht in Tränen auszubrechen. Hazel wirkte glücklich und der Umgang mit Sam war sehr liebevoll. Ich glaube, sie hatten ein gutes Leben. Es schien, als hätte es immerhin für die beiden ein Happy End gegeben.
„Er sieht süß aus", sagte ich mit Blick auf Sam.
„Das ist er auch. Er ist ein wirklich liebes Kind."
Ich schluckte schwer. Was wollte ich mit dieser Unterhaltung überhaupt bezwecken?
Ich sah noch einmal zu Sam und für einen kurzen Augenblick fühlte ich mich meinem Bruder so nahe, wie schon lange nicht. Doch es war nur ein winziger Moment, dann war das Gefühl verschwunden und ich wollte einfach nur noch Abstand zwischen mir und diesem Kind schaffen.
„Ich muss jetzt los", sagte ich nun, als wäre ich in Hektik. „War schön dich mal wieder gesehen zu haben."
„Ja, ebenfalls."
Ich begann meinen Einkaufkorb wegzuschieben. Ich hatte das Ende der Regalreihe fast erreicht, als ich eine männliche Stimme wahrnahm. Ich drehte mich noch einmal um. Ein Mann stand neben Hazel und hatte Sam auf dem Arm.
„Daddy, Milch!", hörte ich Sam sagen.
Der Mann strich Sam über die roten Haare.
„Ja, Schatz. Die Milch dürfen wir nicht vergessen, sonst müssen wir morgen die Cornflakes trocken essen und das wollen wir ja nicht."
Offenbar hatte Hazel einen Freund gefunden, der für Sam wie ein Vater war. Sie wirkten wie eine glückliche Familie. Immerhin die Drei schienen ein unbeschwertes Leben zu führen. Wenigstens einer aus unserer Familie musste nicht mit der Last des Unglücks umgehen müssen.
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Wir waren 5
RomanceAm Anfang des Urlaubs waren wir 5 Freunde. Am Ende blieb einer zurück...